Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
ihm vertraut. Unterhalb des Mundstückes befanden sich zwei fremdartige Schriftzeichen. Zweimal war dasselbe Zeichen nebeneinander in das Holz geritzt. Nachdenklich strich er mit dem Daumen über die Gravierung, aber auch das verriet ihm nicht den Grund für dieses merkwürdige Gefühl der Vertrautheit. Yonathan schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn sich jetzt das Hirn darüber zu zermartern. Er freute sich wieder ein Instrument zu haben, irgendwann würde er auch dahinter kommen, woher es stammte.
Yonathans Gedanken wanderten schon wieder weiter, so wie ihn seine Füße immer weiter trugen, weg von dem Haus, in dem er gemeinsam mit Navran Yaschmon so viele glückliche Jahre verbracht hatte. Der Abschied oben auf den Klippen war kurz, aber nicht ganz schmerzlos gewesen.
»Wir wollen es nicht schwerer machen, als es ohnehin schon ist«, hatte Navran gesagt. »Außerdem«, hatte er hinzugefügt, »sehen wir uns ja bald wieder.«
Obwohl in Navrans Worten ein Hauch von Traurigkeit mitschwang, klangen sie nicht rührselig. Trotzdem hatte plötzlich wieder dieses eigenartige Gefühl von Yonathan Besitz ergriffen, als würde er in die Empfindungen des alten Mannes eintauchen. Und was er dort entdeckt hatte, war mehr als nur Traurigkeit über den Abschied, es war tiefe Sorge, verbunden mit der Befürchtung den geliebten Pflegesohn vielleicht nie wieder zu sehen. Die Reise zum Garten der Weisheit war lang – sehr lang! Allein der Seeweg betrug etwa fünftausend Meilen; die Weltwind würde sicherlich zehn Wochen benötigen, bis sie den Hafen Cedanors anlaufen könnte, vielleicht sogar länger, denn die Zeit der Stürme stand bevor. Die Hauptstadt des Cedanischen Reiches war jedoch noch lange nicht das Ziel der Reise. Von dort aus lägen noch einmal weit über zweitausend Meilen Landweg vor Yonathan, eine Strecke die voraussichtlich ebenfalls zwölf bis fünfzehn Wochen in Anspruch nehmen würde. Yonathan rechnete: fünfundzwanzig Wochen hin, die gleiche Zeit für die Rückreise, das machte – fast ein Jahr! Doch bei dieser Rechnung hatte er den bevorstehenden Winter noch nicht berücksichtigt. Die stürmischen Meere waren um diese Jahreszeit oft wochenlang nicht befahrbar und selbst im warmen Süden sollte es mitunter tagelang wie aus Kübeln regnen. Kein Wunder, dass Yonathan die Sorge Navrans gespürt hatte. Auf einer Reise konnte viel geschehen und selbst wenn alles bestens verlief, dann war da noch immer Navrans Alter. Yonathan wusste zwar nicht, wie alt sein Pflegevater war, aber die Tatsache, dass Navran sich die Reise selbst nicht mehr zugetraut hatte, zeigte doch, dass seine Körperkräfte langsam schwanden.
Während Yonathan an den ersten Häusern der Stadt entlang hinunter zum Hafen schritt, dachte er daran, wie Navran ihn umarmt und geküsst hatte. Eine kleine Träne in Navrans Auge hatte das Sonnenlicht in den Farben des Regenbogens zurückgeworfen. Yonathan würde ihn vermissen. Seltsam, dass man erst von einem Menschen getrennt werden muss, um zu spüren, wie sehr man ihn liebt, dachte er bei sich. Er war so in Gedanken versunken, dass ihn der Zusammenstoß traf wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
»Kannst du nicht aufpassen!«, zischte ihn jemand an.
Yonathan fuhr zusammen, denn er starrte in ein gelblichblasses Totenschädelgesicht. Gerade wollte er aus einer schmalen Gasse auf die breite Straße zum Hafen hinaustreten, als er in diesen Fremden hineinlief.
Der Mann trug eine wallende, schwarze Kutte, aus der einzig der kahle bleiche Schädel herausragte. Sonst war nichts von dem skeletthaften Körper zu erkennen, den Yonathan bei dem Zusammenprall so schmerzhaft gefühlt hatte. Die farblosen Augen des Fremden bohrten sich für einen Augenblick in die seinen. Yonathan fühlte die Kälte, die von diesem Blick ausging.
Doch dann wandte der Fremde sich ab, zog den weiten Talar eng um sich und stapfte wie eine flüchtige Vogelscheuche in Riesenschritten davon.
Das musste einer jener Priester Temánahs gewesen sein! Natürlich, Yonathan hatte davon gehört. Seit kurzem durften sich diese Abgesandten aus dem dunklen Land des Südens frei im Cedanischen Kaiserreich bewegen. Zirgis, der Kaiser höchstpersönlich, hatte die Erlaubnis dazu erteilt. Wenn die Lehre dieser schwarzen Priester nichts tauge, dann werde sie untergehen, lautete Zirgis’ einfache Formel. Sollte sie aber Gutes enthalten, so könne das cedanische Volk davon profitieren.
Yonathan schüttelte sich. Wie konnte Temánah etwas bieten,
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