Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
nahe.
Yonathan verstand nun, was Navran gesagt hatte. Er hatte die Erinnerung mit einem zweischneidigen Schwert verglichen, das für seinen Träger sowohl Schutz als auch Gefahr bedeuten konnte. »Die im Laufe der Zeit verblassende Erinnerung ist wie ein Wundpflaster, das diesen Schmerz zu lindern und oft sogar zu heilen vermag. Ein vollständiges Erinnern an solche Erlebnisse könnte jedoch den Schmerz vervielfachen, vielleicht sogar unerträglich machen«, hatte Navran gesagt. Erstaunt stellte Yonathan fest, wie gut er sich an Navrans Worte erinnern konnte. Alles, was er Yomi wünschte, war Vergessen. Nicht die Liebe seiner Mutter und seines Vaters, aber die Last der Erinnerung an jenen furchtbaren Tag vor zehn Jahren hätte er ihm gerne abgenommen.
Yomis Augen wurden wieder klarer. »Ich habe meine Eltern unheimlich geliebt«, sagte er, »aber Kaldek ist im Grunde auch ein ziemlich guter Mensch.«
»Wie bist du eigentlich an ihn geraten?«, fasste Yonathan schnell nach, froh über Yomis Wiederaufleben. »Er scheint mir nicht der Mann zu sein, der sein Leben der Rettung herumstreunender Waisen widmet.«
Yomi brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Während ich im Hafen Darom-Maos’ zwischen den Trümmern saß, bemerkte ich plötzlich ein Segel am Horizont. Ich dachte zunächst, das Schiff könnte zu den Plünderern gehören und bekam wieder Angst. So versteckte ich mich in einem Haus, nahe der Hafenmole. Das Schiff kam näher und warf schließlich vor der Hafeneinfahrt die Anker. In einem Beiboot kamen einige Männer an Land. Die roten Drachen auf den weißen Segeln und die Bauart des Schiffes verrieten mir, dass es sich um einen cedanischen Segler handeln musste – mein Vater war ja, wie gesagt, Hafenmeister und so kannte ich mich mit den Schiffen und ihren Besatzungen ziemlich gut aus. Ich verdrängte also meine Furcht und kam aus meinem Versteck hervor. Kapitän Kaldek – er war einer der Männer in dem Beiboot – nahm mich mit auf die Weltwind. Der Kapitän sandte noch eine kleine Gruppe von Männern in die Stadt, umnach weiteren Überlebenden zu suchen. Es wurde aber niemand mehr gefunden. Schließlich lichteten wir die Anker und verließen Darom-Maos mit nördlichem Kurs. Fast wären wir noch einem temánahischen Kriegsschiff in die Hände gefallen, ein großes, schlankes Schiff, schwarz wie die Nacht, vom Kiel bis hinauf zum Flaggentopp des Großmastes. Zum Glück kam uns aber die Dunkelheit zu Hilfe und wir konnten aufs offene Meer entkommen.«
»Und seitdem bist du hier bei Kapitän Kaldek auf der Weltwind«, stellte Yonathan fest. »Es war wirklich mutig von ihm, dass er in die brennende Stadt ging, um Hilfe zu leisten. Niemand hätte ihm etwas vorwerfen können, wenn er auf der Stelle kehrtgemacht hätte.«
»Die Segel streichen? Kapitän Kaldek? Da kennt Ihr mich aber schlecht, junger Freund«, knarrte unvermutet Kaldeks Stimme hinter Yonathan. Der Kapitän war unbemerkt in den Raum getreten.
»Da ist ja unser Goldstück«, krähte Zirahs Stimme aus dem Hintergrund.
»Schon gut, schon gut«, beruhigte Kaldek den Vogel und an Yonathan gerichtet fuhr er fort: »Ich freue mich, dass Yomi jemanden gefunden hat, dem er sich anvertraut. Und wenn dieser Jemand eine hohe Meinung von mir hat, dann ist mir das doppelt lieb.« Er grinste. »Auf dem Schiff gibt es zu viele, die sich durch Yomi einen Vorteil bei mir verschaffen möchten. Mag sein, dass ich ihn deshalb den anderen gegenüber manchmal mehr als nur gleich behandelt habe. Ich möchte einfach, dass er ein tüchtiger Seemann wird.«
Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Ich konnte ihm die zweite Hälfte seiner Kindheit leider nicht so gestalten, wie es vielleicht angemessen gewesen wäre.«
»Ich habe es immer gut bei dir gehabt.«
»Mein Junge, würdest du bitte nach der Ladung sehen. Der Sturm hält unvermindert an. Ich möchte verhindern, dass die Fracht ins Rutschen kommt – wäre doch schade um die alte Weltwind, wenn sie sich am Salzwasser verschluckte, was?«
»Ich geh schon«, erwiderte Yomi, warf Yonathan noch einen Blick zu und verschwand hinaus auf den Gang.
»Ich habe Vertrauen zu Euch, obwohl ich Euch erst einen Tag lang kenne. Ihr scheint mir ein unverdorbener Bursche zu sein«, sagte Kaldek, als er mit Yonathan allein war, wurde dann aber sofort wieder geschäftsmäßiger: »Wie steht’s mit dem Schreibdienst? Gestern Abend habe ich Euch verschont, aber wir sollten uns nun um das Logbuch kümmern. Es gehört zu den
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