Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
Füßen spürte er eigentlich nichts weiter als den felsigen Boden und trotzdem tastete sein Geist wie mit Fingern, von denen jeder einzelne ihm seine Empfindungen meldete; Yonathan verfügte über einen neuen Sinn. Es war nicht Sehen, Hören oder Tasten und doch war es ein wenig von allem zusammen – und gleichzeitig viel mehr.
    Yonathan setzte sich in Bewegung und ließ sich von dem Wandernden Sinn leiten. Yomi spürte, wie das Seil sich straffte und stolperte hinterher. Ja, Yonathans Geist wanderte wirklich! Schon nach kurzer Zeit musste er sogar darauf achten, seine Wahrnehmung nicht zu weit in die dunkle Ferne des Felsmassivs schweifen zu lassen. Wie einen jungen, neugierigen Hund musste er seinen Geist an der Leine halten, damit er ihm nicht enteilte. Schon bald lernte Yonathan, mit dem Wandernden Sinn besser umzugehen, sich auf die unmittelbare Umgebung zu konzentrieren. Nun streifte er nicht nur die Felswände wie mit Fingerkuppen, jetzt drang er auch in das Gestein ein, schob sich in Ritzen und Spalten und wühlte sich bis auf den Grund des Flusses. Bald konnte er lockeres Geröll von festem Gestein unterscheiden. Er entdeckte Adern von Mineralien, die sich in unzähligen Windungen durch den Fels zogen. Er selbst wurde ein Teil von Wasser, Erde und Luft.
    Immer sicherer stapften die beiden Freunde in der Dunkelheit ihres verborgenen Pfades voran. Ihr Weg stieg unaufhörlich an. Das Tosen des hinter ihnen liegenden Wasserfalls war längst dem leisen Plätschern des sanft dahinfließenden Flüsschens gewichen. Nach einiger Zeit spürte Yonathan, dass sich der Tunnel vor ihnen verbreiterte und sie standen in einer mächtigen, sich nach oben hin weit öffnenden Höhle. Yonathan »sah«, dass sich der Fluss quer durch diese Felsenhalle schlängelte, in seiner Mitte einen kleinen Teich bildete und schließlich am anderen Ende wieder in einem Tunnel verschwand. Zahlreiche Tropfsteingebilde hingen wie Riesenfinger von der Decke herab oder wuchsen vom Boden hinauf und manche hatten sich zu vollkommenen Säulen vereinigt. Vielfältiges Tropfen erfüllte den Raum wie die Klänge eines gigantischen Glockenspiels.
    »Wir sind wohl in einer ziemlich großen Höhle, nicht wahr?« Yomis Stimme unterbrach hallend die Betrachtungen Yonathans. Während des Marsches hatten sie geschwiegen, bis auf Yonathans knappe Hinweise auf Spalten, Felsvorsprünge und sonstige Stolperstellen. »Ich höre es an dem Hall unserer Schritte.«
    »Eine riesige Halle«, bestätigte Yonathan. »Machen wir eine Pause?«
    »Gerne. Du bist sicher ungeheuer müde, nicht war?«
    »Das kann man wohl sagen. Das alles hat mich doch ziemlich mitgenommen.«
    In der Nähe des kleinen Teiches ließen sie sich nieder. Der Platz war flach, sandig und bequem.
    Nun konnte Yomi nicht mehr länger an sich halten. »Sag, Yonathan, wie machst du das? Wie kannst du dich nur mit dieser Sicherheit in diesem Berg bewegen? Ich sehe nicht einmal die Hand vor den Augen.«
    »Nun, wie ich es mache, weiß ich auch nicht. Es ist der Stab, er gibt mir die Kraft dazu.«
    »Meinst du nicht, Haschevet könnte mir auch ein wenig von dieser Macht abgeben? Die Finsternis macht mich noch ganz krank. Ich fühle mich ziemlich mies.«
    »Du darfst ihn nicht anrühren!«, rief Yonathan, als er spürte, wie Yomi vorsichtig näher heranrückte, und die Höhlenwände warfen ein vielfaches Echo zurück.
    »Schon gut, schon gut«, murmelte Yomi beschwichtigend aus der Dunkelheit, »ich will ihn dir ja nicht wegnehmen. Ich dachte nur…«
    »Entschuldige, ich wollte dich nicht so anfahren. Aber als ich merkte, wie du nach dem Stab greifen wolltest, hatte ich Angst um dich.«
    »Angst? Um mich?«
    »Ja. Ich habe schon einmal mit angesehen, was dieser Stab einem Lebewesen antun kann.« Er musste daran denken, wie der Erdfresser zu Staub zerfallen war, nachdem sich Haschevet in sein Herz gebohrt hatte. Obwohl Yonathan nichts sehen konnte, bemerkte er doch, wie Yomi vorsichtig wieder auf Distanz ging.
    »Was hat er denn getan?«, fragte Yomi, ebenso ängstlich wie neugierig.
    Yonathan überlegte einen Moment. Eines Tages würde er sich noch um Kopf und Kragen reden. Aber er spürte, dass er seinem Freund vertrauen konnte. Niemals würde Yomi absichtlich sein Wissen einsetzen, um Yonathan an der Erfüllung seines Auftrages zu hindern. Vielleicht war es sogar gut und richtig, dass Yomi die Wahrheit erfuhr. Ihre Lage war schließlich schlimm genug. Wenn beide am gleichen Strang zögen, könnte dies

Weitere Kostenlose Bücher