Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
es jedoch immer. Yonathan und Yomi sprachen tagsüber wenig miteinander. Das Klima, ihr Marsch und die ständige Wachsamkeit forderten all ihre Kräfte. Einige Male wurde Yonathan wie durch einen lautlosen Ruf gewarnt – er spürte Gefahren, ohne sie näher beschreiben zu können. Möglicherweise waren es größere Raubtiere, die im Dickicht lauerten. Dann veränderten die Gefährten die Richtung und machten einen großen Bogen. Wenn Yonathans Bewusstsein wieder freie Bahn signalisierte, setzten sie ihren Südkurs durch den Regenwald fort.
Des Nachts, vor dem Einschlafen, tauschten sie dann die Eindrücke des Tages aus oder unterhielten sich über ihr Leben oder ihr Kennenlernen auf der Weltwind; es war erst wenige Tage her, aber Yonathan erschien es bereits wie eine Ewigkeit.
Die Erlebnisse der gemeinsamen Wanderschaft hatten sie sehr wachsam gemacht. Jedes Geräusch des gewiss nicht eben leisen Waldes erweckte ihr Misstrauen. Sie wagten es nicht mehr, gleichzeitig zu schlafen. Wenn einer der beiden ruhte, hielt der andere Wache. Jeden Abend vereinbarten sie, sich zur Hälfte der Nacht abzulösen. Yomi bestand stets darauf, die erste Wache zu übernehmen. Wenn er dann Yonathan weckte, war meistens der größte Teil der Nacht vorüber und Yonathan begann sich allmählich Sorgen um seinen großen Freund zu machen; auch dessen Kräfte waren nicht unerschöpflich.
Am Abend des vierten Tages seit ihrem Zusammentreffen mit dem Baum Zephon wollte sich Yonathan einer List bedienen, um seinem Freund die nötige Ruhe zu verschaffen. Außerdem gab es noch einen anderen Grund, weswegen er nicht so bald schlafen wollte: Er hatte schon den ganzen Tag über ein ungutes Gefühl. Sein inneres Auge meldete ihm wieder, dass etwas nicht in Ordnung war – diesmal nur ganz undeutlich und nicht auf einen bestimmten Punkt begrenzt, wie an den Tagen zuvor. Es war so, als balanciere man mit verbundenen Augen über einen Abgrund hinweg. Obwohl man den gähnenden Schlund nicht sehen konnte, wusste man, dass er da war und wie ein lauerndes Raubtier nur auf einen Fehltritt wartete. Yonathan wollte Yomi nicht mit seinen unklaren Ahnungen und Ängsten beunruhigen. Deshalb schwieg er und war lieber doppelt so wachsam wie bisher.
Am Nachmittag war wieder der vertraute Regen in dicken Tropfen auf das Blätterdach geprasselt. Als er endlich verebbt war und sie eine Stelle erreichten, an der eine schräg aufragende Felsplatte einen trockenen Lagerplatz versprach, sagte Yonathan zu Yomi: »Wie wär’s? Das hier sieht nach einem gemütlichen Plätzchen aus. Wollen wir nicht hier bleiben und unser Lager aufschlagen?«
Yomi runzelte die Stirn. »Ist es nicht noch ziemlich früh für ein Nachtlager?«
»Wir sind in den letzten Tagen gut vorangekommen, Yo. Sicher wird der Garten der Weisheit auch noch da sein, wenn wir uns heute ein wenig mehr Ruhe gönnen.« Als Yonathan bemerkte, dass sein Freund noch nicht recht überzeugt war, fügte er hinzu: »Außerdem tun mir die Füße weh.«
Damit hatte er Yomi den Weg geebnet. Der große, blonde Mann wollte seine eigene Erschöpfung nicht eingestehen, aber um seines jüngeren Freundes willen konnte er schon mal nachgeben. Die Hände in die Hüften gestützt und den Blick in die Höhe gerichtet, sagte er: »In Ordnung. Aber zuerst werde ich auf diesen Baum da klettern. Vielleicht kann man von dort noch einen besseren Rastplatz ausmachen.«
Yonathan zuckte die Schultern. »Also gut, schau nach. Ich mache es mir inzwischen schon mal bequem.«
Als Yomi nach einer Weile wieder von dem mächtigen Baum herabstieg, bemerkte er zufrieden: »Deine Wahl war gut, Yonathan. Nicht weit vor uns scheint ein Sumpf gebiet zu liegen; ziemlich hässliche, grüne Nebelschwaden steigen von dort auf. Ich glaube, wir müssen morgen mal wieder einen Bogen schlagen und versuchen das Gebiet zu umgehen. Bleiben wir also hier. Ich übernehme die erste Wache.«
»Das kommt gar nicht in Frage, Yo. Ich fange heute an.«
»Aber ich habe jede Nacht mit der Wache begonnen.«
»Eben. Zeit, dass wir mal wechseln.«
»Aber du musst mich pünktlich um Mitternacht wecken, Yonathan!«
»Ich verspreche dir, mindestens ebenso pünktlich zu sein wie du.«
Yomi ersparte sich eine Antwort.
Obwohl es nicht kalt war, gönnten sich Yonathan und Yomi in ihrem verborgenen Winkel ein kleines Feuer. Nach einem einfachen Mahl, für das erneut Yonathans unerschöpfliches Proviantsäckchen herhielt, legte sich Yomi zur Ruhe. Der Boden unter dem
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