Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
sie zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch. Äste schlugen ihnen ins Gesicht. Doch spürten sie es kaum; die Flucht verlangte ihre ganze Aufmerksamkeit.
Nachdem sie eine Weile gelaufen waren – es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor –, blieben sie stehen, um zu verschnaufen. Einige Augenblicke lang pumpten sie Luft in die Lungen. Dann lauschten sie. Das auf- und abschwellende Rauschen des eigenen Blutes verdrängte jeden anderen Laut aus ihren Ohren.
Als sie sich ein wenig erholt hatten, sagte Yomi: »Das Geräusch des Sumpfes scheint weg zu sein. Ich kann sogar wieder einige Tierstimmen hören. Meinst du, wir haben’s geschafft?«
Yonathan, der mit den Händen auf den Knien vornübergebeugt dastand, erwiderte: »Ich weiß nicht. Hier bleiben können wir jedenfalls nicht. Man kann nicht sagen, ob oder wann uns der Sumpf einholen würde. Aber mir macht etwas ganz anderes Sorgen.«
»Du hast doch nicht schon wieder was entdeckt?«
»Ich fürchte doch. Genau da, wo wir hinlaufen.«
Yomi schluckte. »Wie groß ist es denn? Ich meine… können wir es irgendwie umgehen?«
»Das lässt sich schwer sagen. Es ist auf keinen Fall so groß wie der Sumpf. Aber ich spüre mehrere Punkte, von denen Gefahr ausgeht.«
»Etwa so wie ein Wolfsrudel?«
»Ja, ungefähr.«
»Das kann ja heiter werden!«
»Komm, lass uns gehen.«
»Und wohin willst du laufen? Der Sumpf umschließt uns von drei Seiten, und an der vierten befindet sich diese andere Gefahr.«
»Wir haben keine andere Wahl. Die Chance ist größer, durch die einzelnen Angreifer vor uns hindurchzuschlüpfen, als den Sumpf dort hinten zu durchqueren. Ich schlage vor, uns so weit
wie möglich in diese Richtung zu halten.«
»Also, gehen wir!«, sagte Yomi.
Langsam und vorsichtig machten sie sich wieder auf den Weg. Auf dem weichen Boden kamen sie fast lautlos voran. Yonathans Sinn durchdrang den Wald. Mehrmals änderten sie die Richtung, schlugen Haken, verharrten bisweilen in einem Dickicht, bis ihre unsichtbaren Jäger vorüber waren, dann schlichen sie wieder weiter.
Nachdem sie sich etwa eine halbe Stunde lang durch die Dunkelheit bewegt hatten, blieb Yonathan stehen. »Pst! Da vor uns ist etwas«, flüsterte er.
Sie duckten sich neben einem dicken Baumstamm nieder und wagten kaum zu atmen.
Dann hörten sie Schritte und Rascheln im Buschwerk. Kurz darauf ertönte ganz in ihrer Nähe eine Stimme. »Wie lange sollen wir noch hier in der Dunkelheit herumsuchen. Morgen nach Sonnenaufgang kriegen wir sie sowieso.«
»Halt den Mund!«, flüsterte eine andere Stimme, wie die erste in einem fremdartigen Dialekt. »Kein Sterbenswörtchen, bis wir sie gefasst haben. Wenn sie hier in der Nähe sind und uns entkommen, weil du herumschreist, dann nagelt er uns an den nächsten Baum.«
Der andere brummte noch irgendetwas und verstummte dann.
Yonathan und Yomi stockte der Atem. Kaum zehn Fuß von ihnen entfernt zogen die Schatten der Männer vorüber. Lange nachdem sie wieder verschwunden waren, machte Yonathan seiner Verblüffung Luft: »Das gibt’s doch nicht! Die suchen uns.«
»So hört es sich an«, bestätigte Yomi.
»Ist dir ihr Dialekt aufgefallen?«, fuhr Yonathan fort. »Den habe ich noch nie gehört – obwohl man auf dem Großen Markttag in Kitvar so allerlei Leute trifft.«
»Das ist es ja eben.« Yomis Stimme war eine Mischung aus Furcht und Zorn. »Ich kenne diesen Dialekt ziemlich gut, obwohl ich ihn erst einmal gehört habe, und zwar damals, als mich meine Mutter unter der Falltür verborgen hatte und die Plünderer unser Haus und die Stadt verwüsteten. Diese Mörder aus Temánah! Niemals werde ich diese Stimmen vergessen.«
Yonathan pfiff leise durch die Zähne. »Komm«, raunte er. »Wir müssen weg von hier. So schnell wie möglich.«
Wieder machten sie sich auf den Weg durch die Schwärze der Nacht. Sie wagten nicht schnell zu laufen – zu groß war die Gefahr, dass das Rascheln eines zurückschnellenden Astes oder das Knacken eines zertretenen Zweiges sie verraten konnte. Schritt um Schritt blieben ihre Jäger hinter ihnen zurück.
Yonathan wollte sich gerade zu Yomi umdrehen, um ihm zuzuflüstern, dass sie es nun so gut wie geschafft hätten – da durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Mit einem Schmerzensschrei sackte er zusammen und ließ sich zur Seite rollen.
Yomi, der das Geschehen mehr mit den Ohren als mit den Augen wahrgenommen hatte, befürchtete das Schlimmste. Besorgt raunte er: »Yonathan! Was ist los mit dir? Hat dich
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