Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
vergangen, bis die vier Wanderer einigermaßen deutlich erkennen konnten, wohin sie ihre Füße setzten.
Yonathan gab sich alle Mühe, mit den anderen Schritt zu halten. Er war jetzt seit mindestens zehn Stunden auf den Beinen – bei weitem der längste Marsch, seit er die Härte seines Schädels an Barasadans gestrandetem Luftschiff erprobt hatte. Die Tage danach war er entweder von seinen Freunden oder von einem gutmütigen Wallach Baltans getragen worden.
Endlich, zur Zeit der dritten Stunde nach Sonnenaufgang, hielt Felin seine Begleiter an. »Das ist die Stelle. Hier werden wir auf Baltan warten.«
Yonathan ließ sich erschöpft zu Boden fallen. Ihr Weg hatte sie aus der engen Schlucht herausgeführt, in der die Stadt Beli-Mekesch lag. In den Flussauen dahinter hatten sie sich immer außer Sichtweite der Pilgerstraße nach Osten bewegt, bis sie schließlich die Lichtung inmitten eines Wäldchens aus Grauerlen erreicht hatten.
Yomi musterte skeptisch die Gegend. »Hier gibt es so unheimlich viele Bäume! Wie kannst du sicher sein, dass es genau diese Stelle ist, Felin, und keine andere?«
»Ich dachte, du bist Seemann, Yomi.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Wie kannst du in einem einförmigen Meer von grauen Wellen sicher sein, dass dein Schiff dem richtigen Kurs folgt?«
»Nichts leichter als das! Da gibt es Hilfsmittel und Anhaltspunkte. Zum Beispiel…« Yomi unterbrach sich selbst. »Ich glaube, meine Frage war nicht besonders klug, oder?«
Ein Lächeln huschte über Felins Lippen. »Du weißt doch, mein Freund: Es gibt keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten.«
»Hoffentlich kennt Baltan die Anhaltspunkte dieser Gegend hier genauso gut wie du«, merkte Yonathan an.
»Keine Sorge. Baltan kennt ganz Neschan wie seinen Garten. Mir scheint manchmal, er würde schon hundert Jahre auf dieser Welt wandeln.«
Nicht nur hundert, mein Freund, dachte Yonathan bei sich. Die Unsrigen haben ein zähes Leben. Und er fragte sich, ob wohl auch er ein solches Maß an Lebenskraft besäße.
Noch bevor die Sonne im dunstverhangenen Himmel ihren Zenit überschritt, hörte man das Trampeln von Hufen, das Rassein von Pferdegeschirren und Wagen sowie die Stimmen von Menschen.
»Du bewegst dich nicht gerade unauffällig«, begrüßte Yonathan Baltan.
»Das lag auch gar nicht in meiner Absicht«, versicherte der grauhaarige Fuchs gut gelaunt. »Jede Heimlichkeit wäre fehl am Platze. Wir sind nur eine Handelskarawane, die sich ein Plätzchen zum Rasten sucht.«
»So kurz hinter Beli-Mekesch, mit all seinen Gasthäusern und Karawanenquartieren?«
»Pah, Beli-Mekesch! Die Stadt hat uns heute Nacht ihre Gastfreundschaft verweigert. Ich hätte heute nicht für die Dauer eines Lemakfurzes länger dort verweilt, als unbedingt nötig wäre.«
Alle lachten. Nur Baltans weißes Reittier blickte seinen Herrn aus großen Augen vorwurfsvoll an.
Baltan fasste kurz zusammen, was sich am Morgen zugetragen hatte. Die in Beli-Mekesch ausgesandten »Handelsgehilfen« waren ohne besondere Neuigkeiten zurückgekehrt. Die nächtliche Stadtdurchquerung des Stabträgers und seiner Begleiter war also offensichtlich unbemerkt geblieben. Nur ein Soldat der Stadtwache hatte ausgeplaudert, dass in der vergangenen Nacht ein ganzer Trupp kaiserlicher Soldaten von zwei Dutzend Banditen hinterhältig überfallen worden sei. Einzig durch mutige Entschlossenheit und heldenhaften Einsatz hatte man der tückischen Rotte schließlich entkommen können. »Nur merkwürdig«, fügte Baltan schmunzelnd hinzu, »dass man keinen Einzigen dieser Halunken hat erschlagen oder in Haft nehmen können.«
Baltans Erzählung verlieh den Gefährten neue Zuversicht – man würde die Reise wenigstens nicht in blinder Flucht fortsetzen müssen. So ließen sie sich denn auch Zeit, sich von den Gefährten zu verabschieden.
Bithya trat auf Yonathan zu und streckte ihm zögernd die Hand entgegen, auf der Gurgi saß und gerade ihr Fell putzte. »Ich bringe dir deinen Masch-Masch wieder. Schelima und ich haben ihn gut versorgt. Du kannst ihn jetzt zurückhaben.«
Yonathan schaute Gurgi bei der Morgenwäsche zu, ohne Anstalten zu machen sie von Bithya entgegenzunehmen. Er hatte seine kleine Freundin der Urenkelin Goels anvertraut, da er nicht wusste, welche Schwierigkeiten ihn bei der Durchquerung Beli-Mekeschs erwarten würden. Anscheinend fühlte sich der Masch-Masch in der Gesellschaft Bithyas sehr wohl, denn das Pelzknäuel hatte noch immer keine Notiz von
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