Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Lebensgröße zu Gesicht bekommen hatte. Nein, Kumi war kein Geringeres als das weiße Lieblingsreittier Baltans.
Anfangs dachte Yonathan, er hätte das Geschenk des listigen , Händlers mehr einem zufälligen Ereignis zu verdanken. Vor vier Tagen – es war der Morgen nach dem Wiedersehen mit Baltan – hatte Yonathan früh sein Nachtlager verlassen. Er streifte durch das kleine Lager, sah sich um und fand sich schließlich bei den Tieren der Karawane. Dort standen Pferde, einige Esel, zwei Maultiere und ein Lemak. Ein weißes Lemak. Er kannte diesen Lemakhengst aus Erzählungen. Man sagte, er sei ein ganz besonderes Tier. Er stammte von einer Stute, die Baltan viele Jahre lang durch die halbe Welt getragen hatte.
Bald gesellte sich ein weiterer Frühaufsteher hinzu – Yehsir, der Karawanenführer. Mit einem Wink des Kopfes in Richtung des weißen Lemaks riet er: »Nimm dich in Acht! Kumi ist sehr eigensinnig. Nur wenige kommen mit ihm aus. Die Übrigen bespuckt er, wenn ihm der Sinn danach steht.«
»Er spuckt?«, fragte Yonathan erstaunt.
»Kumi spuckt.«
Yonathan betrachtete ungläubig das merkwürdige Tier, das ihn seinerseits aus großen Augen musterte – eines davon war grün, das andere blau. Neben einem dichten, tiefbraunen Haarbüschel, das mitten auf dem Kopf des Lemaks saß, waren die seltsamen Augen das einzig Farbige an Kumi. Wenn man in diese Augen blickte, fragte man sich, ob der Verstand dahinter ausgesprochen blöde oder überaus klug war. Yehsir jedenfalls bescheinigte den Artgenossen Kumis eine naturgegebene Tücke und Hinterhältigkeit. Yonathan kannte Lemaks nur aus Erzählungen oder von kleinen Elfenbeinschnitzereien, die auf dem Großen Markttag von Kitvar feilgeboten wurden. Deshalb interessierten ihn Yehsirs Schilderungen sehr. Baltan versicherte ihm später, dass Bezel, der Schützende Schatten, einen Narren an ihm gefressen haben musste, denn lange Reden waren bei dem schweigsamen Karawanenführer eine Seltenheit.
Die Geschichte der Lemaks, so erklärte Yehsir, sei in den wärmeren Ländern Neschans schon seit langer Zeit mit derjenigen der Menschen verwoben. Das erkenne man schon daran, dass es so viele Namen für diese Tiere gäbe: Gamal, das gewöhnliche Lemak; Bichrah, die junge Lemakstute; Becher, der junge Lemakhengst; Kirkarooth, die schnellfüßige Lemakstute, und so weiter und so fort.
Vor allem für Wüstengegenden habe sich das Lemak als ideales Reit-und Lasttier erwiesen: Seine dichte Behaarung schütze es vor der Sonnenhitze; seine schlitzähnlichen Nasenlöcher, die sich nach Belieben schließen lassen, die schweren Lider und die langen Wimpern seien ein guter Schutz vor dem Wüstensand; die tellerförmigen Füße sorgten für einen sicheren Tritt auf weichem Sand und dicke Hornschwielen auf Brust und Knien schützten die Tiere beim Liegen auf glühend heißem Untergrund; die kräftigen Zähne, die die Lemaks nach dem Spucken als zweitliebste Waffe gegen unsympathische Störenfriede einsetzten, ermöglichten es ihnen, praktisch alles zu zerkauen, was in ihre Reichweite geriet.
Lemaks seien sehr genügsam. Sie brauchten nur wenig Getreidefutter und könnten auch von dürren Wüstenpflanzen leben. Das Interessanteste aber seien ihre Trinkgewohnheiten.
In kürzester Zeit könnten sie Unmengen von Wasser saufen. Einmal abgefüllt, könnten sie große Strecken ohne weitere Aufnahme von Flüssigkeit zurücklegen.
Auf Yonathans Frage, warum Baltan bei so vielen Vorteilen nur ein einziges Lemak auf eine so weite Reise mitgenommen habe, erklärte Yehsir, dass das mit der Reiseroute zu tun habe. Der Weg nach Ganor, immer entlang der Pilgerstraße, sei fruchtbares Land, also nichts, was den Einsatz von Lemaks rechtfertigen würde. Da niemand von der Route Yonathans und seiner Begleiter durch die Wüste Mara erfahren sollte, wäre es zu auffällig gewesen, Lemaks statt Pferde mitzuführen. Baltan hoffte diesen Nachteil durch entsprechend viele Lasttiere, die Wasser und Proviant tragen könnten, wieder wettzumachen.
Kumi, so erklärte Yehsir, sei da eine Ausnahme. Jeder wüsste, dass Baltan in manchen Dingen ein wenig exzentrisch sei und niemand würde daher misstrauisch werden, wenn der Kaufmann nicht auf sein Lieblingsreittier verzichten wolle. Außerdem, und bei dieser Bemerkung lachte Yehsirs wettergegerbtes Gesicht, wusste Baltan nicht, wem er Kumi für so lange Zeit aufhalsen sollte. Dies sei nämlich eine wahre Strafe.
»So gefährlich sieht er gar nicht aus«, meinte
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