Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
seine ganze Kraft einsetzen, doch mit jeder Antwort lernte er etwas hinzu. Seit dieser Zeit spricht man von einem ›Mesagenischen Rätsel‹, wenn jemand große Mühe aufwenden muss, um die Lösung zu finden, dafür jedoch am Ende mit Weisheit belohnt wird. Im Falle Mesags führte das dazu, dass er schließlich als reifer und verständiger König aus den Prüfungen hervorging. Er erkannte, dass der Sinn des Lebens nicht in selbstsüchtigen Bestrebungen besteht, sondern darin, im Einklang mit den Geboten Yehwohs zu leben. Mesag war nicht der Mann, der still und zurückgezogen gelebt hätte, um sich nur noch dem Studium des Sepher und dem Gebet zu widmen. Aber er nahm beides sehr ernst und sorgte fortan für eine Reihe gründlicherÄnderungen in seinem Königreich: Den götzendienerischen Tempel ließ er schließen und die schwarzen Priester Temánahs jagte er fort. Durch sein Beispiel sorgte er dafür, dass das Volk sich änderte – der beste Lehrmeister ist eben immer noch das gute Vorbild.« Yehsir lächelte tiefgründig.
»Leider wurde alles zunichte gemacht, als er starb«, bemerkte Felin schwermütig.
Yehsir nickte. »Ja, leider. Yehwoh hielt die Wogen des Verderbens von der Stadt zurück. Mesag regierte insgesamt vierzig Jahre lang und das Land, bis hin zum Geringsten seiner Bewohner, hatte Wohlstand und Frieden. Doch als der König kinderlos starb, bestieg sein Neffe den Thron. Er schlug mehr nach dem Großvater, Menganes. Ja schlimmer noch, er öffnete den Schwarzen Tempel von neuem – welch Unglück, dass Mesag ihn nicht gleich hatte niederreißen lassen! – und nun sprach man nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand davon, dass dort Menschen geopfert wurden. Jeder wusste es, und jeder fürchtete die nächste Opfergabe zu sein. Das Schlimmste allerdings war, dass all dies im Namen Yehwohs geschah!«
Wieder legte Yehsir eine Pause ein, die von dem betroffenen Kopfschütteln der Zuhörer begleitet wurde. Als er nun das Wort ergriff, neigte sich seine Erzählung dem Ende entgegen.
»So wiederholte sich die Geschichte, jetzt jedoch mit schlechtem Ausgang: Elir, der noch immer lebte, verkündete Yehwohs Gerichtsbotschaften. Der neue Machthaber, dessen Name ebenso verschollen ist wie derjenige der Königsstadt, versuchte Elirs habhaft zu werden. Aber der Richter entkam. Vierzig Tage hatte Yehwoh der Stadt und dem Land gegeben. Vierzig Tage, in denen die wenigen weisen Menschen flohen. Sie zogen in das Gebiet jenseits des Gartens der Weisheit und wurden Nomaden, bis auf den heutigen Tag; auch meine Vorväter gehörten zu ihnen. Als die vierzig Tage verstrichen waren, befiel Dunkelheit die Stadt. Von dieser Zeit an nennt man sie nur noch den ›Ort der Vernichtung‹, Abbadon. Den Rest der Geschichte dürftet ihr wieder kennen. Kein Mensch konnte aus eigener Erfahrung von dem Zeugnis ablegen, was nun geschah. Warum? Nun, ihr wisst es: Der Tod legte sich wie schwarzer Nebel über die Stadt und all ihre abhängigen Ortschaften. Er raffte sämtliches Leben dahin und bis heute wächst nicht ein einziger Halm in dem ehedem so fruchtbaren Land. Seit dieser Zeit liegt eine dunkle Wolke über der Stadt – ein Mahnmal zur immer währenden Erinnerung an Yehwohs Fluch. Doch selbst in Elirs düsterster Prophezeiung glomm ein Hoffnungsschimmer. Die Worte des Richters besagten, dass während jeder Dämmerung einige Sonnenstrahlen auf Abbadon fallen würden. An der Grenze zwischen Nacht und Tag würde man erinnert werden an das Licht der Weltentaufe, die einmal alle Wunden heilen wird, auch die von Abbadon. Doch bis dahin würde der verfluchte Ort viele Nächte und Tage langer Schatten sehen. Wie ein schwarzes Leichentuch liegt seit Elirs Tagen die Wolke über der Stadt und sorgt dafür, dass selbst die Sonne ihr Angesicht gramerfüllt von den Gebeinen Abbadons abwendet.«
Damit schloss die Erzählung Yehsirs. Das Gesicht des hageren Karawanenführers war eine unbewegte Maske des Schweigens – ein Gesichtsausdruck, den Yehsir in Vollkommenheit beherrschte.
Die Geschichte über den Untergang einer Stadt und eines ganzen Königreiches hatte alle tief berührt. Jeder hing nun seinen eigenen Gedanken nach.
Auch in Yonathans Kopf schossen viele Überlegungen durcheinander. Es bildeten sich seltsame Gedankenverbindungen, wie eine Halskette aus unterschiedlich geformten Gliedern. Er dachte an Zirgis. Der Kaiser hatte ihm, dem Stabträger, drei Prüfungen auferlegt. Eine Situation, gerade umgekehrt zu derjenigen Elirs und
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