Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
werden? Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte keinen vernünftigen Grund dafür finden, es sei denn…
Da gab es einen Punkt, um den sich Yonathans Überlegungen schon seit einigen Tagen gedreht hatten. Nach dem alles in allem doch glücklichen Ende des Treibsandabenteuers entstand aus dem Gedanken ein Strudel, der all sein Denken auf ein einziges Zentrum konzentrierte. Wie der Treibsand das arme Packpferd in die Tiefe gezogen hatte, so schien auch in seinem Geist jeder Gedanke die Wände eines Trichters hinabzurieseln, in dessen Mitte eine einzige Frage lauerte: Wo war Sethur?
Wenn auch anzunehmen war, dass der Weiße Fluch die Narga, das Schiff des Heerobersten Bar-Hazzats, verschlungen hatte, so musste gleichwohl Yonathans hartnäckigster Feind das zerstörerische Werk überlebt haben. Hatten nicht Gimbar und Felin den Piraten Ason in dem Gespräch auf dem Fluss belauscht, in dem es um Sethurs Auftrag und die damit verbundene Belohnung ging? Selbst wenn der einäugige Pirat seinen Auftrag schon vor dem Zwischenfall am Südkamm erhalten hatte, so blieb doch noch der andere Hinweis auf Sethurs geheimes Wirken: Zirahs Worte, kurz bevor Felins Pfeil sie vom Himmel geholt hatte. »Mein Herr, Sethur, hat mich gebeten dich noch einmal zu fragen, ob du nicht mit ihm nach Temánah gehen willst«, hatte Zirah gerufen, während sie das fliegende Schiff Barasadans umkreiste. Nein, es bestand kein Zweifel: Irgendwo lauerte Sethur und wartete darauf, dass Yonathan ihm in die Falle ging.
Niemand konnte natürlich sagen, ob Bar-Hazzats Vertrauter das Treibsandfeld geschickt, geschaffen oder sonstwie beeinflusst hatte. Besaß er überhaupt die Macht so etwas zu tun? Immerhin hatte Sethur auf den eisigen Gletschern, beim Tor im Süden, bewiesen, dass er über ganz und gar außergewöhnliche Kräfte verfügte. Wie sonst hätte er die gewaltige Eislawine auslösen können? Doch damals hatte er sich Yonathan wenigstens zum Kampf gestellt. Jetzt überließ er die kleine Schar von Wüstenwanderern der Ungewissheit.
»Vielleicht wagt Sethur es nicht, die Mara zu betreten«, mutmaßte Gimbar eines Abends. Aber der Versuch, Yonathan zu beruhigen, wollte nicht recht gelingen.
»Er hat es gewagt, in das Verborgene Land einzudringen. Da wird ihn die Mara auch nicht schrecken.«
Solche Gespräche sorgten dafür, dass die Aufmerksamkeit der Nachtwachen nie nachließ.
»Morgen werden wir den Cedan erreichen«, eröffnete Yehsir beim Errichten des Lagers.
Der Treibsand lag inzwischen acht Tagesmärsche zurück und auch an diesem Mittag unterschied sich das Bild in nichts von den vorhergehenden: Fünf Wüstenwanderer rammten ihre Zeltstangen in weichen, heißen, ockergelben Sand. Der Lagerplatz befand sich inmitten eines schmalen Tals, das sich zwischen den Schultern zweier Hügelketten nun schon seit Stunden in West-Ost-Richtung dahinschlängelte.
»Seltsam, dass der Cedan so nah sein soll, wenn man doch nichts als Wüste um sich herum sieht«, sinnierte Yonathan.
»Das liegt an Abbadon«, erklärte Yehsir mit finsterer Miene. »Zwischen der verfluchten Stadt und dem Garten der Weisheit reicht die Mara bis an das Ufer des Cedan heran.«
Abbadon! In der Sprache der Schöpfung bedeutete dieser Name so viel wie »Ort der Vernichtung«. Yonathan schauderte bei dem Gedanken, dass derselbe Strom, der an seinem Nordufer das fruchtbare Land Baschan geschaffen hatte, im Süden bar jeden Lebens sein sollte. »Die Verfehlung der Stadt muss wirklich groß gewesen sein, dass Yehwoh das ganze Land so gründlich verflucht hat.«
»Das war sie«, bestätigte Yehsir. »Du kennst sicher den Bericht aus dem Sepher Schophetim. Aber es gibt noch einigeweitere Überlieferungen, die man in meinem Volk bis auf den heutigen Tag nur mündlich weitergegeben hat. Wenn es dich interessiert, dann kann ich die Geschichte erzählen, sobald wir unser Lager aufgeschlagen haben.«
Ein solches Angebot aus Yehsirs Mund zählte zu den Seltenheiten des Lebens, die man sich auf keinen Fall entgehen lassen durfte. Yonathan und die Gefährten entwickelten unversehens einen enormen Eifer beim Aufspannen der Sonnenzelte.
Als Mensch und Tier ihren Durst gelöscht hatten, nahm man im Schatten der Zeltplanen Platz, um der Erzählung Yehsirs zu lauschen. Der Karawanenführer rückte noch einmal den Turban zurecht. Die Spannung wuchs. Ohne Eile ließ er den Blick in die Runde schweifen. Alle starrten ihn erwartungsvoll an, aber keiner sagte etwas – bei Yehsir konnte man nie
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