Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Mesags. Irgendwie waren auch die Aufgaben Zirgis’ für Yonathan ›mesagenische Rätsel‹ gewesen. Er hatte Dinge getan und gelernt, die für ihn völlig neu waren. In diesem Zusammenhang stieg das Bild seines Traumbruders in ihm auf. Yonathans Träume hatten ihn wiederholt zu diesem Jungen geführt, der zuletzt immer kränker und schwächer aussah. Wie ging es diesem merkwürdigen Bruder jetzt? Was würde mit ihm, Yonathan, geschehen, wenn die Lebenskraft seines Traumbruders immer weiter schwand und – Yehwoh möge es verhindern – schließlich sogar völlig erstarb?
Der Bruder seiner Träume hatte gesagt, dass sie beide eins seien. Würde auch er, Yonathan, dann sterben? Oder war es sogar umgekehrt? War er in Wirklichkeit die Ursache dafür, dass es seinem Traumbruder immer schlechter ging?
Eines jedoch wusste er: Er konnte seinem Traumbruder nur helfen, wenn er die Aufgabe erfüllte, wenn Haschevet den Weg in die Hände des neuen, siebten Richters fand. Dieses Ziel musste er erreichen! Ein anderer Gedanke hakte sich an dieser Überlegung fest: Der Weg ist der Preis. Das waren die Worte der Schlange an den Sohn des Schreiners, von denen der Geschichtenerzähler am Fuße der Stadtmauern von Meresin erzählt hatte. Und damit schloss sich der Kreis von Yonathans Gedankenkette: Yehsir hatte seine Sache gut gemacht; er war ein wirklich guter Erzähler!
Immer noch schwiegen Yomi, Gimbar und Felin. Sie dachten über die Lehren nach, die der Untergang Abbadons für sie bereithielt: eine gründliche Lektion. Und jene Wolke, von der Yehsir am Ende berichtet hatte, war eine ständige Ermahnung sie nicht zu vergessen. Jeder konnte sie sehen, der sich Abbadon bis auf eine Entfernung von einer Tagesreise näherte.
Wenn Yehsir sich jetzt umdrehen würde, könnte er sie auch betrachten, dachte Yonathan. Zuvor war ihm das schwarze Band im Osten gar nicht aufgefallen, aber jetzt spannte es dort seinen unübersehbaren Bogen. Die plötzliche Entdeckung ließ Yonathan aus seinen Gedanken auffahren. »Man bekommt ein richtiges Frösteln, wenn man diese Wolke sieht.«
Yehsirs Kopf fuhr in die Höhe. »Was?«
»Ich meinte, die dunkle Wolke, die Yehwoh über die Stadt gehängt hat, lässt mich sogar bei dieser Hitze hier…«
»Du kannst die Wolke noch gar nicht sehen«, unterbrach der Schützende Schatten die Erklärung. Wahrscheinlich glaubte er, seine Erzählung hätte Yonathans Phantasie beflügelt.
Doch der ließ sich nicht so schnell abwimmeln. »Und ob ich das kann!«, beharrte er und deutete mit ausgestrecktem Arm über Yehsirs Schulter hinweg. »Da, sieh doch selbst. Man könnte fast meinen, sie wächst, je länger man hinschaut.«
Jetzt hatte auch Yehsir die Wolke im Osten gesichtet. Er sprang auf, so schnell, dass alle erschraken.
»Auf!«, rief er in unerwartet scharfem Ton. »Wir müssen sofort das Lager abbrechen und aus diesem Tal heraus.«
»Aber wie…?«
»Nicht jetzt, Yonathan, später.«
Langsam spürte auch Yonathan, dass Gefahr drohte. Yehsir hatte offenbar richtige Angst! Nicht lähmende Furcht, aber doch ein Gefühl, das zu höchster Eile trieb.
Yonathan spähte noch einmal nach Osten, gerade rechtzeitig, um noch das Leuchten eines Blitzes zu erkennen, das die aufquellende schwarze Wolkenbank für einen Augenblick in ein etwas freundlicheres Grau kleidete.
Schnell wurden die provisorischen Zelte abgebaut und auf die Pferde verpackt. Als die Karawane zum Abmarsch bereit war, flogen die ersten dunklen Wolkenfetzen wie die Vorboten eines gewaltigen Heeres über den Lagerplatz hinweg.
»Schneller!«, drängte Yehsir wieder. »Dort vorn, eine halbe Meile voraus, fällt der Hang nicht so steil ab. Da können wir hinauf.«
Es war höchste Zeit aufzusatteln. Aber wo war Kumi?
Ein Blitz und kurz darauf ein ohrenbetäubender Donnerschlag, die ersten Regentropfen fielen.
»Kumi!«, rief Yonathan nach dem Lemakhengst.
»Lass ihn«, forderte Yehsir. »Er wird sich schon zu helfen wissen.«
Aber Yonathan dachte nicht daran, sein Reittier einfach zurückzulassen.
»Ich muss erst Kumi finden.«
»Keine Zeit!«, bellte Yehsir. »Steig bei mir mit auf.«
In diesem Moment sah Yonathan den beweglichen Schwanz Kumis hinter einem Einschnitt in der Talwand. Wahrscheinlich hatte das Lemak etwas Interessantes entdeckt.
»Da vorn ist er ja. Ich hole ihn und komme nach.«
»Eilt ihr schon vor, dort den Berg hinauf!«, rief der hagere Mann den drei weniger störrischen Begleitern zu, während seine Hand noch
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