Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
hielt Yonathan den Stab Haschevet und fühlte dessen beruhigende Wärme. Er erforschte das Herz des Mannes, dessen Name im ganzen Cedanischen Reich einem Fluch gleichkam. Und plötzlich dämmerte eine Erkenntnis am Horizont seines Bewusstseins. Hier, im Angesicht des Mannes, der nur ein Wort sagen, nur einen Finger heben musste, um Yonathan vom Leben zum Tode zu befördern, hier zeichnete sich endlich die Antwort auf die eine, große Frage ab. Seit Benel ihm den Auftrag gegeben hat Haschevet zum Garten der Weisheit zu tragen, hatte diese Frage in seinem Innern geschwelt.
Wie war es einem schwachen, fehlerbehafteten Menschen möglich vollkommene Liebe zu offenbaren?
Er, Yonathan, wäre zu dieser vollkommenen Liebe fähig, hatte Benel gesagt. Aber wie? Nur durch diese Liebe könne er seinen Auftrag erfüllen, hatte Yehwohs Bote versichert. Und doch hatte Yonathan so viele Fehlschläge erlitten – so glaubte er jedenfalls. Er hatte Zorn – ja Hass! – empfunden, als Sethur die Weltwind angriff, auch als Gavroq, einer der Männer des Heerobersten, durch die Macht des Stabes getötet wurde. Sicher, Din-Mikkith hatte ihm erklärt, dass Liebe und Hass kein Widerspruch sind, solange der Hass sich gegen das Böse an sich richtet, nicht aber die Person trifft. Das Böse kann nie zum Guten werden, hatte der grüne Behmisch erklärt, aber der Böse mag sich ändern und kann sich zum Guten wenden.
All das ging ihm durch den Kopf, während sein Blick Sethurs dunkle Augen gefangen hielt. Dann fragte er: »Warum könnt Ihr mich nicht ziehen lassen, Sethur? Wiegt das Gebot Bar-Hazzats wirklich so schwer? Muss man einem Befehl unbedingt gehorchen, auch wenn er einem Unrecht dient?«
Sethur schien einen inneren Kampf auszutragen. Doch dann gewann eine der in ihm widerstreitenden Parteien die Oberhand und er presste zischend heraus: »Bar-Hazzats Wort ist das Recht in Temánah!«
»Wir sind hier an der Pforte zum Garten der Weisheit, Sethur. Vergesst das nicht! Da, wo Ihr herkommt, gebietet die Finsternis, hier aber regiert das Licht.«
»Dann bin ich ein Sklave der Finsternis und ich muss tun, wie sie mir gebietet.« Aus Sethurs Stimme sprach eherVerzweiflung als Überzeugung, aber sie trug auch den Schatten des Unheils in sich, der das Handeln vieler Verzweifelter umgibt. »Dies ist mein letztes Angebot, Yonathan: Folgt mir nach und ich werde weder Euer Leben noch das Eurer Freunde antasten. Ich verspreche Euch, wenn Ihr mit mir geht, werdet Ihr wie mein eigener Sohn werden. An meiner Seite werdet Ihr ein Großer sein im Lande des Südens und bald in ganz Neschan. Andernfalls jedoch…« Sethur zögerte.
»Ja?«
»Ich könnte Euch hier auf der Stelle mit meinem Schwert niederstrecken.« Sethur legte die Hand an den Schwertgriff.
Diese Geste, die eigentlich als Drohung gedacht war, bewirkte genau das Gegenteil. Mit einem Mal blitzte das Licht lang verborgener Erkenntnis in Yonathans Bewusstsein auf wie ein heller Strahl, der in ein finsteres Gewölbe dringt. Ja, er konnte vollkommene Liebe üben. Die Vollkommenheit, die Yehwoh von der Schöpfung verlangte, musste eine sein, die auch erreichbar war – keine absolute Makellosigkeit, wie nur der Höchste sie besaß. Natürlich! Derjenige ist vollkommen, der das Ziel erreicht, der dem Zweck dieser Vollkommenheit entspricht. Yonathans Ziel war, das Böse zu besiegen.
Er erwiderte den Blick Sethurs ohne Furcht und ohne Groll. Für viele Menschen verkörperte Sethur das Böse schlechthin. Aber Yonathan sah in diesem Augenblick etwas anderes. Der Heeroberste war ein fehlgeleiteter Mensch, dessen Sinn die Finsternis fest umschlossen hielt, um das Licht der Wahrheit auszuschließen.
Langsam legte Yonathan seine Hand auf Sethurs Faust, die den Schwertgriff umklammerte. »Ja, du kannst mich töten, ebenso wie ich dich mit diesem Stab hier auf der Stelle töten könnte.« Yonathan hielt Haschevet vorsichtig in die Höhe und ließ den Blick über den goldenen, in der Sonne glitzernden Knauf wandern.
Erst jetzt schien Sethur klar zu werden, dass eigentlich er in der Hand Yonathans war und nicht umgekehrt. Vielleicht dachte er auch an Gavroq, seinen Hauptmann, den der Stab von einem Augenblick zum nächsten in ein Häufchen Asche verwandelt hatte.
»Hab keine Furcht, Sethur. Ich werde meine Hand nicht gegen dich erheben. Denn deine Pläne werden auch so nicht erfüllt werden. Du wirst Haschevet nie nach Temánah tragen können. Dazu sind wir den Nebeln Gan Mischpads schon zu nah. Du
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