Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Allein die Erinnerung an den vogelähnlichen Spion ließ ihn frösteln. »Ich werde Gurgi in meinem Hemd verstecken. Niemand wird sie zu sehen bekommen«, beruhigte er Gimbar – und sich selbst.
»Ich glaube, mir wird übel«, presste Gimbar zwischen den Zähnen hervor. »Wenn ich gewusst hätte, dass es schon wieder tauchen würde…«
»Irgendwie müssen wir ja in die Höhle hineinkommen. Aber Galal sagt gerade, dass wir gleich da sind.«
»Hier unten ist es dunkler als in Zirgis’ tiefstem Kerker,«, meinte Yomi.
»Und es stinkt schlimmer als in einem hundert Fuß hohen Berg verfaulender Fische«, fügte Gimbar hinzu.
»Wir sind da!«, rief Yonathan.
Sie hörten das Plätschern des Meerwassers und ein eigenartiges Zischen und Rauschen – Geräusche, die auf merkwürdige Weise widerhallten. Dann zeigte ihnen der muffige Geruch von feuchtem Stein, dass sie wohl an der richtigen Stelle aufgetaucht waren. Das Loch, wie es Galal genannt hatte, war eine monumentale Höhle, mitten in der felsigen Küste vor Meresin. Trotz ihrer riesigen Ausmaße bot sie kaum genug Platz für das gewaltige Traumfeld: Der Mast der Mücke stieß einige Male gefährlich an die unsichtbare Höhlendecke.
»Vorsicht!«, rief Yonathan.
»Entschuldigung«, signalisierte Galal, »sonst bin ich hier immer allein.«
»Schon gut. Wo ist die Stelle, an der die Fledermäuse ein-und ausfliegen?«
»Da, wo die Sonne am frühen Morgen hereinscheint.«
Yonathan überlegte, wo Osten sein könnte. Er seufzte und zog Haschevet aus dem Köcher. Mit Hilfe des Stabes sah er dieÖffnung, ein schmaler Spalt, der nur wenig heller schimmerte als die Umgebung. Wie einfach das war! Seit er vor wenigen Wochen mit Yomi die Finsternis des Ewigen Wehrs durchquert hatte, gelang es ihm immer besser das Koach zu lenken. »Da oben!«, rief er aufgeregt.
Yonathan angelte sich Gurgi und verstaute sie in seinem Hemd. Dann griff er nach Yomis Arm und erklärte: »Nimm Gimbar bei der Hand und folge mir. Es ist nicht weit. Gleich können wir die Luft eines neuen Morgens schnuppern, mit festem Boden unter den Füßen.« Und ein paar Schritte später: »Yo, zieh den Kopf ein.«
»Autsch!«
Meresin
Die staubige Straße lag noch im fahlen Licht des frühen Morgens, als die Laune der drei Wanderer bereits strahlte wie die Mittagssonne.
»Ein unheimlich gutes Versteck hat dein Galal uns da ausgesucht«, befand Yomi.
»Es ist nicht mein Galal«, sagte Yonathan. »Es ist unser aller Freund.«
»Aber du kannst am besten mit ihm umgehen«, meinte Gimbar.
»Schaut, da drüben!«, rief Yomi. »Das müssen die Mauern Meresins sein.«
Tatsächlich. Die Straße führte soeben über eine Hügelkuppe und schlängelte sich nun sanft abfallend ihrem Ziel entgegen. Von der Klippe aus, in der sich Galal und die Mücke verbargen, hatten sie vielleicht zwei Meilen zurückgelegt. Das nächstgelegene Stadttor erreichten sie nach einer weiteren Meile.
Meresin lag in einer weiten Mulde, die bis ans Meer hinabreichte. Die Stadt war von einer dicken Steinmauer umgeben. In regelmäßigen Abständen ragten daraus trutzige Wachttürme empor, aus denen schwarze Schießscharten wie wachsame Augen die Umgebung überblickten. Ein gut Teil des Hafenviertels lag vor den Stadttoren; einerseits, weil man die Schutzmauer nicht gut hatte bis ins Meer bauen können, und andererseits, weil der Hafen den tiefsten Punkt Meresins bildete – nicht nur geographisch. Dort wohnten und arbeiteten die Fremden: Händler und Seeleute. Dort befanden sich Lagerhäuser, Kontore und Stapelplätze, aber auch Herbergen und Spelunken mit einer Kundschaft, die man innerhalb der Mauern nur ungern geduldet hätte, auf die man aber auch nicht verzichten wollte, da man mit ihnen Geschäfte machte.
Mit dem ersten Sonnenstrahl waren die Tore der Hafen- und Handelsstadt geöffnet worden. Es herrschte reges Gedränge, da eine beträchtliche Anzahl von Menschen entweder in Zelten vor der Stadt übernachtet hatte oder schon früh vor Sonnenaufgang dorthin aufgebrochen war. Nur die gelangweilten Torwachen passten nicht recht zu dem hektischen Treiben.
Yonathan, Yomi und Gimbar ließen sich vom Strom der Menschenmenge in die Straßen Meresins tragen. Die Stadt war ein Schmelztiegel für Menschen aus allen Provinzen des großen Cedanischen Kaiserreiches. Kaufleute in kostbarem, farbigem Tuch schwebten mit entrücktem Blick, den Kopf voller wichtiger Geschäfte, durch das Getümmel; einfache Leute, gegen die sich Yonathan in
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