Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
schließlich auf einem Gesicht mit tiefbrauner, sonnengegerbter Haut hängen. Eine schwarze Klappe bedeckte das linke Auge. Der kleine, faltige Kopf ruhte auf einem mageren, unscheinbaren Körper, der in eine weite, graue, zerschlissene Hose und ein ebenso fadenscheiniges Hemd gewickelt war. Auffällig an der jämmerlichen Gestalt waren nur zwei Dinge: der glänzende Griff des langen Dolches, der aus dem breiten Gürtel ragte, und das kalte, schwarze Auge, das auf Yonathan gerichtet war.
»Yomi!« Yonathan drehte sich um und sah dem Freund ins Gesicht. »Benimm dich ganz unauffällig«, flüsterte er. »Schau über meine Schulter. Da ist ein einäugiger Mann, der uns beobachtet. Du findest ihn, wenn du zwischen der dicken Frau und dem Kupferschmied hindurchsiehst.«
Yomi spähte in die angegebene Richtung. Dann wandte er sich wieder Yonathan zu. »Ich sehe niemanden.«
Yonathan fuhr herum. Der Einäugige war weg. Aber das beruhigte ihn kein bisschen. »Komm mit«, sagte er und tauchte in die Menge.
Yomi blieb nichts anderes übrig, als Yonathan zu folgen. Nach einer Weile erfolglosen Herumstreifens beugte er sich zu Yonathan hinab und versuchte den allgegenwärtigen Lärm zu übertönen. »Was war denn mit dem Mann, Yonathan?«
Dessen Augen wanderten noch immer in der Menschenmenge umher, von einem zum anderen, von Gesicht zu Gesicht. Sie ließen auch nicht davon ab, als Yonathan den Kopf zurückneigte, um über die Schulter hinweg zu antworten: »Das habe ich dir doch gesagt. Er hat uns beobachtet.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein, Yonathan? Du kannst ihn doch höchstens ganz kurz gesehen haben.«
»Eben. Das hat mir gereicht.«
Yonathans Ton schien Yomi zu beunruhigen. Er nickte und raunte: »Ich glaube, wir verlassen unauffällig den Platz.«
Yonathans Blick löste sich nur mit Mühe von der Menschenmenge, als er zu Yomi hinaufsah. »Bei deiner Größe wird es schwer sein, von hier zu verschwinden, ohne gesehen zu werden.«
»Ich kann mich ja bücken.«
»Findest du, dass das unauffälliger wäre?«
»Da drüben bei der kleinen Gasse sind ein paar hohe Marktstände. Wir könnten so tun, als würden wir uns für etwas interessieren. Wenn unser Beobachter erst bemerkt, dass wir zwischen den Ständen nicht mehr auftauchen, sind wir längst über alle Berge.«
»Das wäre eine Möglichkeit«, stimmte Yonathan zu.
»Ich glaube, wir haben ihn abgehängt«, schnaufte Yonathan.
»Ja, aber jetzt lass uns erst mal ausruhen und über etwas anderes nachdenken. Ich bin diese Rennerei nämlich nicht mehr gewohnt.«
»Worüber willst du nachdenken, Yo?«
»Wie wir Gimbar treffen wollen. Er wird bald zum Marktplatz zurückkehren und wer dann nicht da ist, das sind wir.«
Yonathan schlug sich die flache Hand auf die Stirn. »Daran habe ich in all der Aufregung gar nicht gedacht! Was machen wir jetzt?«
»Vielleicht sucht uns dieser Einäugige in den Gassen und ist längst nicht mehr auf dem Platz.«
»Oder er hat gesehen, wie wir uns von Gimbar getrennt haben und denkt sich, dass wir uns an derselben Stelle wieder treffen wollen.«
»Das Beste wird sein, wir gehen die breite Straße zum Hafen hinab und versuchen Gimbar unterwegs zu treffen. Aller Voraussicht nach wird er auf diesem Weg in die Stadt zurückkehren.«
»Gut«, stimmte Yonathan zu. »Wir warten noch ein wenig in einer Seitengasse, falls Gimbar früher zurückkehrt. Kurz vor dem verabredeten Zeitpunkt machen wir uns dann auf den Weg hinab zum Hafen.«
Der Plan funktionierte. Als Yonathan und Yomi den Teil des Hafenviertels betraten, der noch innerhalb der Stadtmauern lag, trafen sie auf Gimbar.
»Warum habt ihr nicht an dem verabredeten Treffpunkt auf mich gewartet?«, fragte Gimbar sofort.
»Wir sind entdeckt worden«, antwortete Yonathan.
»Entdeckt? Von wem?«
Yonathan hob ratlos die Schultern. »Was weiß ich. Ein kleiner Einäugiger ziemlich zerlumpt sah er aus.«
»Ein Einäugiger – sagst du? Lass uns von der Straße verschwinden. Hier können wir von jedem gesehen werden.« Gimbar hatte es mit einem Mal sehr eilig. »Ich habe in der Nähe eine Schenke gesehen. Da können wir bis zum Abend bleiben – und du, Yonathan, kannst mir ganz genau erzählen, wie dieser Mann aussah und was ihr in der Zwischenzeit erlebt habt.«
Die Schenke war ein finsteres Loch. Der Fußboden bestand aus festgestampfter Erde, das spärliche Stroh darauf war modrig und im ganzen Gastraum roch es nach abgestandenem Bier sowie den Körperausdünstungen
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