Nesser, Hakan
hektischen Zeit in Berlin brauchte. Es waren gute Jahre gewesen, vor
allem in beruflicher Hinsicht, aber jetzt war die Zeit für eine Veränderung
gekommen.
»Warum
habt ihr euch scheiden lassen?«, fragte ich.
»Das
war eine einfache Entscheidung«, antwortete sie. »Er hatte eine andere. Und ich
hatte aufgehört, ihn zu lieben. Wir hätten einander zerstört, wenn wir so
weitergemacht hätten. Sie sind doch auch geschieden, dann wissen Sie wahrscheinlich,
wovon ich spreche?«
»In
gewisser Weise schon«, stimmte ich zu. »Aber wir haben einander nicht zerstört.«
»Was
habt ihr dann?«
Ich
überlegte, was Agnes und mich eigentlich dazu gebracht hatte, getrennte Wege zu
gehen, genauer gesagt überlegte ich, was ich sagen sollte. Es gab eigentlich
keine Veranlassung, die Wahrheit zu erzählen, auch wenn ich in meinen Gedanken
über sie stolperte. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich
tatsächlich geantwortet habe.
Es
dauerte ein halbes Jahr, bis mir klar wurde, dass auch Winnie es vorgezogen
hatte, an diesem ersten Abend die Wahrheit zu verschweigen.
Aber
wir liebten uns nicht.
Gingen
nicht miteinander ins Bett und schmiegten nicht Haut an Haut. Nach ein paar
Stunden und einigen weiteren Drinks bestellte sie ein Taxi. Wir tauschten
unsere Telefonnummern aus und umarmten uns kurz im Flur, mehr war nicht. Als
ich in mein Hotelbett fiel, war es Viertel nach drei, aber glücklicherweise
hatte ich keinen Termin am folgenden Tag - abgesehen von einem Zug, den ich am
späten Nachmittag nehmen musste.
Ich
war wahrscheinlich auch betrunken, zumindest hatte ich einen heftigen Kater,
als ich am nächsten Morgen aufwachte, und erst als ich in besagtem Zug saß und
durch die schmutzigen Fenster auf eine noch schmutzigere Novemberlandschaft
blickte, begann ich über die drei Ecksteine des vergangenen Abends
nachzudenken.
Die
Blindheit.
Die
Würmer.
Winnie.
Aber
über die möglicherweise vorhandenen Zusammenhänge zwischen diesen drei
Erscheinungen machte ich mir keine Gedanken. Warum auch?
7
Nach
einem bösen Traum wache ich ziemlich früh auf und gehe noch vor sieben Uhr
hinunter ans Wasser. Es ist ein ruhiger, klarer Morgen. Das Wasser ist ein
Spiegel. New Jersey funkelt. Ich gehe südwärts, bis hinunter zu The
Battery, mit der Sonne im Gesicht, in einem Wechselstrom
von Freizeitsportlern. Rollerblader, Radfahrer, Jogger. Und Hunde. Ich
wünschte, Winnie wäre bei mir, wir könnten Hand in Hand gehen, es ist ein Morgen,
wie geschaffen, um wunde Seelen zu heilen.
Aber
sie ist noch daheim und schläft. Vielleicht hat sie auch nur so getan, in der
Erwartung, dass ich gehe. Wir haben gestern Abend Wein getrunken und einen
Film aus der Videothek angesehen. Anschließend sind wir noch rausgegangen und
haben jeder unser Glas in Arthurs Tavern getrunken,
einer kleinen Jazzkneipe in der 7th Avenue. Als wir irgendwann gegen
Mitternacht ins Bett fielen, waren wir beide angetrunken. Winnie mehr als ich,
doch es nützte nichts. Ganz gleich, wie die Umstände sind, wir finden nicht
zueinander.
Ich
kaufe eine Flasche Wasser an einem Stand im Battery Park und mache mich auf den Rückweg. Wieder am Wasser
entlang. Überlege, ob ich nicht ins Jüdische Museum gehen sollte, von dem ich
gelesen habe, lasse es aber sein. Merke es mir für später vor; stattdessen
denke ich über Winnies Bild nach. Diese fotografische Genauigkeit und das
Gesicht, das keine Konturen annehmen will.
Aber
in meiner Erinnerung handelt es sich nicht um ein Foto. Es ist eine Filmsequenz
von knapp zehn Sekunden. Ich stehe dort am Küchenfenster mit meiner
Espressotasse in der Hand, vollkommen reglos, und betrachte das, was draußen
vor sich geht.
Der
Mann in dem dünnen grünen Mantel, der etwas sagt und eine Geste mit der Hand
macht. Sarah, die nickt und aufs Haus zeigt. Vielleicht erklärt sie, dass sie
dort wohnt, aber sie dreht nicht den Kopf, bemerkt nicht, dass ihr Vater im
Küchenfenster steht und auf sie aufpasst. Stattdessen lacht der Mann,
vielleicht lacht Sarah auch. Er streckt ihr die Hand entgegen, sie zögert eine
Sekunde, nicht länger als eine Sekunde, dann ergreift sie sie. Warum zum
Teufel gibt sie ihm die Hand? Er führt sie um das Auto herum, öffnet die rechte
hintere Tür und lässt sie hinein. Geht zurück zur Fahrerseite, steigt ein,
startet und fährt davon.
Ich
werde meinen Kaffee nie austrinken. Lasse die Tasse auf der Anrichte stehen und
renne hinaus auf die Straße.
Es
ist zu spät. Das Auto ist
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