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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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bereits in der langgestreckten Kurve hinten beim
Sportplatz verschwunden. Mein Anruf bei der Polizei wird um 15.43 Uhr
registriert, acht Minuten, nachdem Sarah verschwunden ist. Wenn ich nicht erst
versucht hätte, Winnie zu erreichen, wäre er noch zwei, drei Minuten früher
eingegangen, aber das hätte auch nichts geändert.
    Sie
haben vorbildlich gehandelt, Herr Steinbeck, erklärte mir Kommissar Schmidt
wiederholte Male, ich kann mich noch genau daran erinnern. Meistens fuhr er
sich dabei mit der Hand über Wangen und Kinn, als wollte er kontrollieren, ob
er auch nicht vergessen hätte, sich zu rasieren, und jedes Mal klang er ein
wenig melancholisch. Auch wenn man das Richtige tut, ist das Ergebnis nicht
immer dementsprechend, ich glaube, das war die einfache Wahrheit, die er
vermitteln wollte.
    Die
meisten Kinder, die verschwinden, sind bereits mehrere Stunden fort, bevor ein
Elternteil die Polizei anruft. Sie haben sich ganz
genau so verhalten, wie man es in so einer Situation tun sollte, Herr
Steinbeck, Sie haben sich nichts vorzuwerfen.
    Es
nützt nichts. Es hat uns siebzehn Monate lang keinen Millimeter weitergebracht
und tut es auch nicht an diesem Morgen am Ufer des Hudson.
     
    Ich
betrete die Bibliothek bereits wenige Minuten nach Öffnung, aber Mr. Edwards
sitzt schon an seinem Platz. Er schenkt sich gerade Tee aus seiner Thermoskanne
ein und zeigt mit ihr fragend auf mich. Ob ich auch möchte?
    Ich
zeige zurück, dass ich mit meiner Wasserflasche zufrieden bin. Er nickt und
beugt sich über seine Bücher und seine Papiere. Ich lasse mich an meinem Tisch
nieder und tue das Gleiche.
    Aber
ich habe nur meinen Notizblock und meine Stifte. Meine Erinnerungen und meine
abgenutzten Worte. Seine Einladung zu einem Gespräch werde ich ein andermal
akzeptieren, beschließe ich, ein andermal. Zumindest nehme ich an, dass es bei
seinem Angebot darum ging. Aber ich bin mir nicht sicher, möglicherweise ist
Mr. Edwards auf seine Integrität bedachter als die meisten Amerikaner.
    Ich
fange sofort an zu schreiben. Ohne besonders großen Wert auf Stil und Nuancen
zu legen, versuche ich unsere erste Begegnung zu beschreiben. Berichte von Blindheit
und Gedichtzeilen, und ich bin verblüfft davon, wie ahnungslos ich gewesen
bin. Aber andererseits: Warum hätte ich etwas ahnen sollen? Was hätte ich ahnen sollen? Es ist natürlich keine Kunst, im
Nachhinein das eine oder andere festzustellen. Wahrscheinlich werde ich
irgendwann, in ein paar Jahren oder vielleicht bereits in ein paar Monaten,
diesen Herbst in New York mit einem anderen Blick betrachten werden als jetzt.
Denn so ist es doch: Wir können nie genau fassen, was gerade geschieht und was
noch geschehen wird. Wir können nur versuchen, uns dem, was geschehen ist, mit
gewisser Überlegung anzunähern.
    Zwei
blinde Würmer... Erst später, nachdem ich Aarlach und
diese zahlreichen Autorenabende hinter mir gelassen hatte, erinnerte ich mich
daran, wie mir diese Zeilen in den Kopf gekommen waren. In einem einzigen
Schub, Wort für Wort, als hätte ich tief in mir eine Stimme rezitieren hören
und als ginge es nur darum, zuzuhören und die Worte aufzuzeichnen.
    Vielleicht
kommt das ja öfter vor als gedacht, wobei dann immer noch die Tatsache bestehen
bleibt, dass Winnie ihre Zeilen mehr oder minder zu genau dem gleichen
Zeitpunkt aufgeschrieben hat. Vielleicht hat sie die gleiche Stimme gehört. In
der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 1999 - ich in meinem Arbeitszimmer in
Maardam, sie in ihrer Wohnung in der Sebastianstraße in Berlin. Dieser Umstand
ist unbegreiflich, nicht einmal heute, nach so langer Zeit, kann ich mir einen
Reim darauf machen.
     
    Ich
schreibe zwei Stunden lang, fast ohne den Blick vom Papier zu heben. Um Viertel
nach zwölf verlasse ich die Bibliothek, lasse jedoch meine Tasche, meinen Block
und meine Stifte auf dem Tisch liegen. Ich schlendere hinauf zu Monster Sushi
in der Hudson Street, um etwas zu Mittag zu essen. Setze mich an einen Tisch
auf dem Bürgersteig, und während ich esse, rufe ich Winnie an. Sie geht nicht
dran, ich weiß nicht, ob sie malt oder ob sie schwimmt. Oder ob sie nur nicht
mit mir sprechen möchte. Ich fühle mich plötzlich ungemein traurig, es ist ein
Gefühl von fast unmittelbarer Körperlichkeit, ein Krampf oder eine plötzliche
Kälte in der Brust, im Bereich rund ums Herz. Ich bestelle ein Glas Sake, um
die bösen Geister zu vertreiben, obwohl es erst ein Uhr ist und obwohl ich noch
mindestens zwei Arbeitsstunden

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