Nesser, Hakan
Winnies Schwester Abigail kündigte zwei oder drei Mal ihren Besuch an, aber sie kam
nie. Dafür erschienen einige meiner Jugendfreunde, jeweils für einen Abend und
einen Morgen, um genau zu sein, aber weder Winnie noch ich unternahmen größere
Anstrengungen, unseren Bekanntschaftskreis zu erweitern. Ziemlich bald stellten
wir fest, dass wir beide ausgeprägte Individualisten waren und uns eigentlich
am wohlsten allein oder in der Gesellschaft des anderen fühlten. Wir waren uns
selbst genug, über lange Perioden war Winnie wie besessen vom Malen. Sie konnte
jeden Tag zwischen zehn, zwölf Stunden am Stück arbeiten - wir hatten die
Garage zum Atelier umgebaut -, und ich nehme an, dass ich genau genommen
ebenso vertieft in meine Arbeit war wie Winnie in die ihre. Zumindest
zeitweise, ich schrieb meinen vierten und meinen fünften Roman in Saaren, und
wenn man es im Nachhinein und distanziert betrachtet - der einzige
Aussichtspunkt, der mir gewissermaßen zur Verfügung steht -, dann erkennt man,
dass es eine Periode intensiver und beglückender Schaffenskraft für uns beide gewesen
sein muss. Unsere
Beziehung schien zu funktionieren, wir liebten uns oft und intensiv, und auch
wenn wir fast keine Freunde hatten, so hatten wir doch das Gefühl, dass wir
genau das Leben führten, das wir wollten. Eine Art Dreieinigkeit aus Familienleben,
Liebe und Schöpfungskraft, eine Konstellation, die zu erleben es
wahrscheinlich nur wenigen Menschen vergönnt ist.
Zumindest
war es das, was wir uns während dieser Zeit einzureden versuchten, natürlich
war uns klar, dass ein Hauch von Extravaganz über unserer Ehe lag, wir
erklärten einander, dass es sich um eine Art Gnade handele, die zumindest
niemand anderem schadete. Wir erhielten für unsere Mühen auch gute
Rückmeldungen, von den Rezensenten und der Allgemeinheit. Jedes Mal, wenn
Winnie eine neue Ausstellung hatte, verkauften sich die meisten ihrer Werke
bereits in der ersten Woche, und meine beiden Romane landeten hoch oben auf
den Bestsellerlisten. Wie ich bereits erwähnt habe, wurden sie auch beide
verfilmt - der letzte Film lief ein paar Monate vor Sarahs Verschwinden in den
Kinos, und ich erinnere mich, dass wir nach der Premiere und nachdem wir uns am
Champagner und allem möglichen anderen einen leichten Rausch angetrunken
hatten, überrascht feststellten, dass wir auf dem Weg waren, reich zu werden.
Im
Nachhinein und aus der Distanz betrachtet.
Sarah
war ein glückliches Kind. Das wage ich zu behaupten, und während ich das
schreibe, höre ich einen Knall vom Fenster über dem Tisch, an dem ich sitze -
ein Vogel oder ein fehlgeleiteter Ball vom Spielfeld, ich weiß es nicht, es ist
nichts zu sehen -, ich hebe den Blick und senke ihn wieder, schaue auf den fünf
Wörter langen Satz, den ich gerade formuliert habe, und zucke zusammen vor
der Zeitform, die ich verwendet habe, und vor der Selbstverständlichkeit, mit
der ich meine Wahl getroffen habe. Sarah war ein
glückliches Kind.
Bedeutet
das, dass ich davon ausgehe, dass sie tot ist? Ich denke nicht, nicht
unbedingt, aber welchen Grund gibt es für die Vermutung, dass sie ein
glückliches Kind war ? Darüber kann ich mich nicht wirklich auslassen,
und da Sarah und jetzt Begriffe sind, die nicht im selben Raum oder im selben Satz
stehen können, kann ich nur von ihrer Vergangenheit sprechen. So ist das nun
mal, und ich bin der Erste, der das bedauert. Ich fange noch einmal an.
Sarah
war ein glückliches Kind. Das wage ich zu behaupten, es gab eine Sorglosigkeit
und Unbedarftheit, die sie vom ersten Atemzug ihres Lebens zu umgeben schienen.
Sie war immer zufrieden, jammerte nie, nicht einmal, wenn sie müde war. Herr
und Frau Nesbith erzählten, dass Emily und Casper häufiger miteinander
stritten, wenn sie zu zweit waren, aber nie, wenn Sarah dabei war. Beide
spielten gern mit ihr, und sie spielte gern mit den beiden. Sie schien das
Leben und die Welt um sich herum mit solch einer fröhlichen Neugier und
unerschütterlichen Zuversicht zu betrachten, wie man sie, wenn man versucht,
das Leben auf die grundlegendsten Bestandteile herunterzubrechen, allen
Menschen in ihr Gepäck wünschen würde. Ich weiß, dass ich als Teenager ein Buch
über eine sehr, sehr alte Seele las, die ein letztes Mal auf die Erde geschickt
wurde, obwohl sie nur noch eine ganz geringe Anzahl von Jahren übrig hatte,
obwohl sie die Auflage bekam, ein Kind mit zurück in den Himmel zu nehmen -
aber die Seele bat trotzdem beharrlich
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