Nesser, Hakan
zu
identifizieren, der unsere Tochter entführt hat? Ja, natürlich, nichts könnte
wichtiger sein, aber es scheint, als wollten meine Gedanken es heute Abend
einfach leugnen. Auslöschen und vergessen, wie gesagt. Weder Winnie noch ich
haben die vierzig erreicht, es ist statistisch durchaus möglich, dass wir einen
großen Teil unseres Lebens noch vor uns haben. Sie legt ihre Hand auf meine.
»Das macht nichts«, sagt sie. »Ich weiß so oder so, dass sie lebt.«
Mir
wird plötzlich übel. Ich verlasse den Tisch und suche die Toilette auf.
Später
am Abend, vielleicht ist es schon nach Mitternacht, liegen wir noch wach im
Bett und starren durch unser kleines Dachfenster hinauf zum Himmel. Schweigend
liegen wir da, Seite an Seite auf dem Rücken, und der Abstand zwischen uns
scheint größer zu sein als der Abstand zu den Sternen da oben. Ein Bild taucht
in meiner Erinnerung auf, aus dem Sommer, bevor Sarah verschwand. Ich möchte
eigentlich lieber nicht daran denken, aber es gibt keinen Schutz vor den
Bildern. Nicht zu dieser Tageszeit, ich wünsche mir nur, dass der Schlaf mich
nicht auch in dieser Nacht wieder im Stich lässt.
Wir
hatten ein Haus außerhalb von Oostwerdingen gemietet. Nicht direkt an der
Küste, sondern ein paar Kilometer landeinwärts lag es in den Dünen. Ein altes,
heruntergekommenes, baufälliges Holzhaus, das einem ziemlich berühmten Konzertpianisten
gehört hatte, aber nach seinem Tod in die Hände der Erben gefallen war. Da sie
sich offensichtlich in allem uneinig waren, konnten sie sich auch nicht darüber
einigen, das Haus entweder zu nutzen oder es zu verkaufen. Stattdessen vermieteten
sie es an Sommergäste. Das war zumindest die Information, die ich ganz im
Vertrauen vom Makler erhalten hatte.
Es
war groß, hatte einen gewissen Charme, aber war nicht besonders praktisch, um
eine lange Geschichte kurz zu machen. Wir zogen Anfang Juni ein und wohnten
dort bis Mitte August. Wir hatten beide, Winnie und ich, einiges an Arbeit
mitgenommen.
Ich
war dabei, das zu schreiben, was mein siebter Roman werden sollte (Arbeitstitel Der springende Punkt, immer noch nicht
erschienen, trotz mehr als sechshundert Seiten chaotischen Textes), Winnie
malte für eine Ausstellung in Hamburg mit Vernissage im Oktober.
Es
war in vielerlei Hinsicht ein reicher Sommer, der letzte, bevor sich alles
veränderte. Aber das Bild, das mir immer noch am stärksten vor Augen steht, ist
das von dem Abend, als wir mit einem Mal Sarah nicht finden konnten.
Unser
Haus lag etwas abgelegen am Rande eines kleinen Ortes namens Wermlingen. Das
Grundstück wurde auf zwei Seiten von Laubwald begrenzt, in erster Linie Buchen,
auf den anderen beiden von Getreidefeldern. Normalerweise arbeitete ich auf
der schattigen Veranda, die auf den zugewachsenen Garten führte. Winnie malte
meistens im ersten Stock, wo zwei große Dachfenster viel Licht hereinließen.
Sarah, die es gewohnt war, sich allein zu beschäftigen, hielt sich fast immer
im Garten auf, wo sie ein Planschbecken hatte, das wir jeden Morgen mit
frischem Wasser füllten, eine alte Schaukel, die in einem Apfelbaum hing, und
ein kleines Indianerzelt, in dem sie ihre Spielsachen aufbewahrte.
So
war es auch an diesem Abend, doch als ich, wie ich es immer mal wieder tat,
einen Blick vom Computer hob, um zu sehen, ob sie noch da war, konnte ich sie
plötzlich nirgends entdecken. Ich erhob mich von dem knarrenden Korbstuhl,
rief ihren Namen, erhielt jedoch keine Antwort. Ich ging in den Garten hinaus,
schaute ins Zelt, obwohl ich wusste, dass es eigentlich zu klein war für sie,
rief noch einmal nach ihr.
Keine
Antwort. Ich ging ums Haus herum, kehrte zur Veranda zurück, ging weiter
hinein ins Wohnzimmer und in die Küche, während ich ununterbrochen ihren Namen
rief. Winnie kam herunter und fragte, was denn los sei. Ich erklärte ihr, dass
ich nicht wüsste, wo Sarah geblieben war.
Winnie
erblasste und sank auf einem Küchenstuhl nieder, faltete die Hände und schaute
mich mit einem Blick an, wie ich ihn noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Eine
Sekunde lang fürchtete ich, sie könnte in Ohnmacht fallen. Sie war ganz weiß im
Gesicht und atmete mit offenem Mund.
»Finde
heraus, wo sie ist«, flüsterte sie. »Bitte, Erik, finde heraus, wo sie ist.«
Sie
selbst blieb am Küchentisch sitzen, reglos wie eine Statue. Ich ahnte eher, als
dass ich begriff, was in ihrem Kopf vor sich ging, und ich tat mein Bestes,
Ruhe zu bewahren. »Keine Sorge«, sagte ich. »Bleib
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