Nesser, Hakan
darum, diese letzte Reise tun zu
dürfen, und schließlich gab der Liebe Gott nach. Glück und Freude auf der Erde
verbreiten zu dürfen, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, muss doch allemal besser sein, als niemals etwas verbreiten zu
dürfen. Unter all den tröstlichen Dingen, die nach Sarahs Verschwinden zum
Vorschein kamen, war es wohl diese Erzählung, die mit größter Hartnäckigkeit
immer wieder auftauchte.
Es
hatte sie trotz allem gegeben. Sie hatte uns einige Jahre lang Sinn,
Zufriedenheit und Freude geschenkt. Sie war ein glückliches Kind gewesen. Wäre
es besser gewesen, sie wäre niemals geboren worden?
Einmal,
bei einer einzigen Gelegenheit, fragte ich Winnie, was sie dazu meinte, und
ihre Antwort kam unmittelbar, wie eine Retourkutsche auf einen Angriff.
Natürlich
wäre es besser gewesen, sie wäre niemals geboren worden.
Natürlich.
Es
vergingen nur zwei Tage nach Sarahs Verschwinden, bis Winnie versuchte, sich
das Leben zu nehmen. Ich fand sie mit aufgeschnittenen Pulsadern und einer
ausgetrunkenen Whiskyflasche in der Badewanne, aber die Schnitte waren zu klein
und zu schlecht gesetzt, und ich entdeckte sie etwas zu früh, als dass ihr
Vorsatz hätte gelingen können.
Die
psychiatrische Klinik, in der sie kurz darauf landete, hieß Rozenhejm. Sie war
schön gelegen, gut zehn Kilometer südlich von Saaren, an einem Südhang mit
Obstbäumen, von denen viele in voller Blüte standen, als Winnie aufgenommen
wurde. Den ganzen Sommer über unternahmen wir lange, ruhige Spaziergänge auf
diesen Hängen, hinunter zum Fluss Meusel. Schweigend gingen wir nebeneinander
her; manchmal, besonders in den ersten Wochen, als Winnie die Station nicht
verlassen wollte oder noch nicht durfte, wanderte ich dort allein.
Der
Unterschied war erschreckend gering.
11
Etwas
am Rande meines Blickfelds lässt mich mein Schreiben unterbrechen und
aufschauen.
Eine
Bewegung irgendeiner Art. Jemand, der den Raum verlässt wahrscheinlich oder
seine Position an einem der Tische weiter hinten verändert, ich weiß es nicht,
ich habe keinen Grund, länger darüber nachzusinnen, was sich da bewegt haben
könnte.
Entscheidend
ist, dass ich den Blick hebe und aus dem Fenster schaue und dass ich eine
Weile so sitzen bleibe. Nicht besonders lange, fünf, zehn Sekunden vielleicht,
aber lange genug, dass ich sie draußen auf der Leroy entdecke.
Es
ist natürlich ein unglaublicher Zufall, dass es sich um genau den richtigen
Moment handelt. Vielleicht ist es auch gar kein Zufall, aber dann möchte ich
lieber nicht wissen, wie die Erklärung aussieht. Auf jeden Fall ist es das
erste Mal, dass ich an diesem Morgen überhaupt aus dem Fenster schaue; dessen
bin ich mir sicher, ich habe mehr als zwei Stunden gebeugt dagesessen und
konzentriert geschrieben, und als ich jetzt da draußen meine Ehefrau auf dem
Bürgersteig vorbeieilen sehe, überfällt mich für ein paar Sekunden ein
Schwindelgefühl.
Oder
etwas in der Art. Ich kann das Gefühl nicht so recht beschreiben, aber es ist,
als wäre mein Leben unabhängig von meinem Bewusstsein und unabhängig von dem
Text, in den ich vertieft gewesen bin, aus der Bahn geraten, und plötzlich ist
mir alles unbekannt. Fremd und bedrohlich.
Wo
befinde ich mich? Welchen Tag, welches Jahr haben wir heute? Was tue ich, und
was ist das für eine Frau, die da draußen auf der Straße entlangspaziert und
mir so vertraut erscheint?
Kurz
gesagt: Wer bin ich?
Nach
einer Weile stabilisiert sich das wieder. Ich verlasse eilig meinen Tisch, Mr.
Edwards wirft mir einen verwunderten Blick zu, aber in weniger als einer Minute
bin ich draußen auf dem Bürgersteig. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie
sie hinten bei der Hudson um die Ecke biegt. Ich folge ihr mit ausholenden,
energischen Schritten; dieses Mal will ich sie nicht wieder aus den Augen
verlieren. Ich rechne nach und komme zu dem Schluss, dass fünf Tage vergangen
sind, seit ich sie in der Christopher Street habe verschwinden sehen.
Sie
trägt heute wieder dasselbe gelbe Kleid, dazu eine kleine Jacke, da die Luft etwas
kühler geworden ist. Ich halte mich zwanzig, dreißig Meter hinter ihr, während
wir uns die Hudson Street entlang in Richtung Norden bewegen. Es gibt viele
Leute auf dem Bürgersteig, ich glaube nicht, dass sie mich entdecken würde,
selbst wenn sie den Kopf drehte.
Aber
sie dreht den Kopf nicht, sie geht entschlossenen Schrittes, ich bekomme den
Eindruck, dass sie genau weiß, wohin sie will, und
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