Nesser, Hakan
persönlichen
Erfahrungen, auf die ich mich berufen könnte. Sie tat es in einem Kinosaal, es
waren ungefähr fünf Minuten des Films vergangen, als sie sich zu mir beugte und
flüsterte: »Wir bekommen ein Kind, Erik.«
Zuerst
verstand ich gar nicht, was sie da sagte - jemand in der Bankreihe hinter uns
raschelte mit Papier -, doch als sie es wiederholte und ich die Botschaft voll
und ganz begriffen hatte, wollte ich natürlich all meine Freude und
Überraschung, die in meinem Kopf durcheinanderwirbelten, zum Ausdruck bringen,
aber Winnie legte mir nur einen Zeigefinger auf die Lippen und sagte, ich solle
mich lieber auf den Film konzentrieren.
Er
hieß »Schwarze Tage, weiße Nächte«, ich glaube, er war kanadisch, und ich kann
mich an keine einzige Szene mehr erinnern.
Sarah
wurde am 28. Oktober 2001 geboren, zwei Tage vor unserem Hochzeitstag. Die
Schwangerschaft verlief problemlos, abgesehen von den letzten Wochen, in denen
Winnie Rückenschmerzen bekam und gezwungen war, die meiste Zeit halb liegend
zwischen diversen Kissen auf unserem Wohnzimmersofa zu verbringen. Die Geburt
selbst dauerte vier Stunden, gerechnet von dem Moment, als wir ins Krankenhaus
kamen, und Winnie erklärte, dass sie nur ungefähr ein Zehntel so schmerzhaft
war wie Judiths Geburt.
Wir
waren inzwischen noch einmal umgezogen, nach Saaren, wo wir uns ein Haus am
Rande der Stadt gekauft hatten. Eine typische kinderfreundliche
Obere-Mittelschicht-Gegend mit Parks, Schulen, Bibliothek, Einkaufszentrum und
überwiegend freistehenden Häusern. Ich merke, dass es mir schwer fällt, über
diese Zeit zu schreiben, aber ich weiß, dass ich es muss; das ist ja der Sinn des Ganzen. Zumindest teilweise, wenn es
denn überhaupt einen Sinn gibt. Ich rede mir ein, dass es notwendig ist, es
gibt da etwas, das ich zu begreifen oder zumindest zu erahnen versuche, eine
Art Erklärung oder Korrespondenz ganz am Rande meines Blickfelds; ich kann
nicht sagen, woher dieses Gedankenkonstrukt kommt, aber ich fühle, dass dieser
gesamte Lebensabschnitt, den ich in Worte zu fassen versuche - all diese Tage,
Monate und Jahre, die vorbeigezogen sind und so bedeutungsvoll und pulsierend
erschienen, während ich mitten in diesem Leben steckte, während sie doch
gleichzeitig etwas Geheimnisvolles, nur schwer Fassbares und vielleicht auf
lange Sicht hin Destruktives in sich bargen -, plötzlich in einen vergessenen,
geschichtslosen Sumpf versunken ist, und dass der Versuch, diese eingebildeten
Schlüssel herauszufischen, zu rein gar nichts dient.
Schlüssel
wozu?, frage ich mich. Um etwas aufzuschließen oder um etwas zu verschließen?
Was kann man mit dem Leben tun, abgesehen davon, zu versuchen, es zu leben?
Wir
lebten also dort, fünf Jahre lang, in der Wallnerstraat 24 im Stadtteil Zwingen
in Saaren. Winnie, ich und unsere Tochter Sarah. So war es, ob nun
geschichtslos oder nicht: Zeit wie auch Ort stehen unleugbar fest, sind
unverrückbar in die Kategorie Unbestreitbare Fakten eingeschrieben.
Da
sowohl ich als auch Winnie freiberuflich arbeiteten, machten wir uns nicht die
Mühe, in den ersten Jahren nach einer Kinderbetreuung Ausschau zu halten, aber
ab September 2004 hatten wir ein Au-pair-Mädchen. Sie hieß Anne und kam aus
Norwegen, wir teilten sie uns mit der Familie Nesbith im selben Viertel. Anne
arbeitete vier Tage in der Woche bei Nesbiths, wo sie auch ein Zimmer im ersten
Stock hatte. Diese hatten zwei Kinder, Emily und Casper, und montags bis donnerstags
lieferten wir Sarah dort ab; freitags kamen Anne und die Nesbith-Kinder zu uns
ins Haus, und Winnie und ich hielten uns dann meistens fern. Erledigten an
diesem Wochentag Dinge im Zentrum und gönnten uns meist den Luxus, bei Kramers
unten am Fluss oder im Mephisto zu Mittag zu essen.
In
diesem Rhythmus - abgesehen vom Sommer 2005, den ich bereits beschrieben habe -
lebten wir, bis Anne Saaren verließ und zurück nach Trondheim ging. Das war im
April 2006, ungefähr einen Monat, bevor Sarah verschwand, was unmittelbar
damit zusammenhing, dass sie ein halbes Jahr lang ein Verhältnis mit Herrn
Nesbith gehabt hatte. Wahrscheinlich länger, doch das gaben sie nie zu.
Natürlich
hatte ich einige Male Termine an verschiedenen Orten, was im Zusammenhang mit
den Büchern stand, die herauskamen, und Winnie fuhr ein paar Mal fort, wenn
sie Ausstellungen hatte, aber abgesehen von diesen Unterbrechungen blieben wir
daheim in der Wallnerstraat.
Wir
hatten nie einen größeren Bekanntenkreis in Saaren.
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