Nesser, Hakan
dass sie ein wenig verspätet
ist. Sie geht weiter zur Bethune Street, biegt hier nach links ab, zum Fluss
hin, dann nach rechts in die Greenwich Street,
geht in den Meatpacking District, und
bevor wir es erreichen, weiß ich, was ihr Endziel ist.
Pastis.
Das berühmte Restaurant in der Little West
12th Street.
Ganz
richtig. Sie huscht durch die Tür an der Ecke, die ein Türwächter für sie
offen hält, ich bleibe ein Stück zurück auf dem unebenen Kopfsteinpflaster
stehen und überlege, was ich machen soll.
Schaue
auf die Uhr. 12.30 Uhr, keine ungewöhnliche Zeit für eine Verabredung zum
Mittagessen.
Ein
geplantes Treffen, es hätte keinen Sinn, ins Pastis zu gehen, ohne vorher
einen Tisch zu reservieren. Nicht einmal an einem Tag mitten in der Woche -
wenn man nicht zuvor eine halbe oder eine ganze Stunde an der Bar verbringen
will.
Na
und?, denke ich schließlich. Meine Ehefrau speist mit einem Bekannten im Pastis
zu Mittag. Was sollte daran so bemerkenswert sein? Warum reagiere ich
plötzlich wie ein eifersüchtiger Paranoiker?
Ich
weiß es nicht. Ich stelle mich in den Schatten einer Häuserwand in der Little West 12th und denke nach. Muss einsehen, dass ich ihr kaum ins Restaurant folgen kann; wir
haben dort einmal zusammen gegessen, es war genauso bunt, gut und laut, wie der
Ruf es verlangt, aber ich hätte große Probleme, zu behaupten, ich würde dorthin
gehen, um ganz allein zu Mittag zu essen. Man sitzt nicht allein im Pastis,
zumindest nicht ein Mensch meines Kalibers, es ist ein bisschen zu teuer, und
ich bin nicht egozentrisch genug dafür.
Also muss ich mich damit begnügen,
zu wissen, dass sie dort drinnen sitzt. Und wenn ich sie danach frage, wenn wir
uns am späten Nachmittag sehen, überlege ich, und wenn sie mit einer
vernünftigen Erklärung kommt... ja, was gibt es dann für einen Grund, sich
Sorgen zu machen oder sich zu beunruhigen?
Ich
zucke mit den Schultern. Gehe hinunter zum Fluss und wandere dann zurück,
zwischen Joggern und Hundebesitzern. Eine Weile bleibe ich in der Höhe der
Zehnten Straße ste hen und
unterhalte mich mit einem aus der letzteren Gruppe. Er heißt Scott und hat eine
englische Bulldogge, die sich eine Weile ausruhen muss, bevor sie weiter nach Hause in die Bank Street laufen kann.
Der Hund trägt den ungewöhnlichen Namen Empire State Building, und er hat es
sich direkt auf meinen Füßen gemütlich gemacht. Vielleicht hofft er, dass ich
ihn trage.
Es
ist in erster Linie Scott, der redet, ich erfahre bald, dass er Banker ist und
eine Islamphobie hat. Empire State Building und ich beschäftigen uns vor allem
damit, aufs Wasser zu starren. Die Welt ist bizarr und willkürlich, denke ich.
Es hängt nichts zusammen, wie sehr wir es uns auch wünschen würden.
Die
vernünftige Erklärung bleibt aus.
»Ich
meine gesehen zu haben, wie du ins Pastis gegangen bist«, sage ich, als ich ein
paar Stunden später nach Hause komme.
»Pastis?«,
fragt Winnie, ohne von ihrem Block aufzusehen, auf dem sie Skizzen macht.
»Zur
Mittagszeit«, sage ich. »Ich kam zufällig vorbei. Hab einen Spaziergang nach Chelsea gemacht.«
»Ich
war heute nicht im Pastis«, erklärt Winnie, und ihr Tonfall ist so entspannt
und gelangweilt, dass mir nie der Verdacht kommen würde, sie könnte lügen. Wenn
ich es nicht besser wüsste.
Wenn
ich es nicht besser wüsste. Was geht hier vor?,
denke ich erneut. Was zum Teufel treibt sie? Ich bereue, nicht ins Restaurant
gegangen zu sein, um sie auf frischer Tat zu ertappen; hier zu stehen und sie
zur Rede zu stellen, erscheint mir nicht wirklich erstrebenswert.
Auf
meinem Standpunkt zu beharren und tatsächlich zu behaupten, sie lüge. Dass ich
ihr von der Bibliothek gefolgt bin und dass... nein, das wäre sowohl für sie
wie auch für mich nur peinlich. Wenn unsere Beziehung derzeit etwas nicht brauchen
kann, dann sind es Scham und offenes Misstrauen. Ich beschließe also zu
schweigen. Die Zähne zusammenzubeißen und sich für die Zukunft bessere
Strategien zu überlegen.
Strategien?
Was für ein Wort benutze ich da? Wie schon gesagt: Was geht hier eigentlich
vor?
»Möchtest
du ein Glas Wein?«, frage ich.
»Ja,
gern«, nickt Winnie. »Aber nur, wenn wir noch weißen im Kühlschrank haben.«
Sie
hebt immer noch nicht den Blick von ihrem Skizzenblock. Ich finde eine
halbleere Flasche.
Später
am Abend nehmen wir die Metro zum Lincoln Center, und es gelingt uns, noch zwei
Zwanzig-Dollar-Tickets für Rigoletto zu bekommen.
Weitere Kostenlose Bücher