Nesser, Hakan
in
New York. Ich lese die kurzgefassten Angaben über ihn, die ich in der Bibliothek
im Internet finde. In seinem kurzen Leben veröffentlichte er vier Gedichtsammlungen,
von denen die dritte, Les Lettres toxiques, zweifellos
als seine beste angesehen wird. Hier erscheint er auch zum ersten Mal voll und
ganz als Surrealist. Seine letzte Sammlung, Les
Meubles obscurantes, erschien 1932, im selben
Jahr, in dem er nach New York zog, nachdem seine Frau und seine vierjährige Tochter
bei einem tragischen Schiffsunglück im Mittelmeer vor der Küste von Collioure
nahe der spanischen Grenze ums Leben kamen. Für Les
Lettres toxiques wurde Grimaux 1930 mit dem
prestigeträchtigen Preis P.S.C.P belohnt.
Das
ist im Groben alles, was ich über ihn finde. Von seiner kurzen Zeit in New York
- nach allem, was ich gelesen habe, nicht mehr als ein halbes Jahr - handelt
keine Zeile.
Abgesehen
davon, dass er hier starb. Wahrscheinlich durch eigene Hand; auch hier meine
ich es zwischen den Zeilen lesen zu können.
Über
den Parapsychologen in 95 Perry Street
weiß ich bis dato nichts, aber als ich den Namen Grimaux google, bekomme ich
mehr als 58 000 Treffer, und mir wird klar, dass diese Namensübereinstimmung
vielleicht doch nicht so merkwürdig ist, wie ich es mir eingebildet habe.
Bernard Grimaux ergibt 13900 Treffer, die meisten handeln nicht von meinem Dichter,
sondern von einem berühmten Architekten, der sich ganz und gar nicht das Leben
in New York nahm. Außerdem kenne ich den Vornamen des Perry-Mannes ja gar
nicht, er steht jedenfalls nicht im Telefonbuch, so viel lässt sich sagen,
während ich mich noch in der Bibliothek befinde. Gleichzeitig wächst mein
Bedürfnis, meine Frau zu sehen und sie mit den Informationen zu konfrontieren,
die ich durch Mr. Edwards' Bemühungen herausbekommen habe. Plötzlich habe ich
das Gefühl, es wäre eilig; es ist erst kurz nach zwei, als ich mich mit einem
Nicken von Mr. Edwards verabschiede und durch das Portal hinaushaste.
Noch
bevor ich die 7th Avenue überquert habe, packt mich der Zweifel mit seinen
Krallen. Es ist wie immer. Das Nachdenken ist die ältere Schwester des
Entschlusses.
Was
nützt es, Winnie wegen ihres Besuchs in der Perry Street unter Druck zu setzen? Und wenn sie sich nun ein
wenig übernatürliche Hilfe sucht, ist das tatsächlich etwas, weswegen man sich
aufregen sollte? Oder Trost - wahrscheinlich geht es eher darum. Es kann doch
nichts Schlimmes sein, wenn sie ab und zu dieser Art von Einbildung folgt?
Geschieht das nicht sogar mit ausdrücklicher Erlaubnis von Doktor Vargas? Oder nicht?
Sie
ist nicht zu Hause. Ich rufe sie auf ihrem Handy an, bekomme aber keine
Verbindung. Laufe in unserer Wohnung in einer nagenden, sich steigernden Unruhe
herum, bevor ich schließlich wieder hinausgehe und mich in das kleine italienische
Restaurant an der Ecke Carmine/Bleecker setze. Ich bestelle eine kleine
Karaffe Rotwein und einen Salat. Von meiner Position aus auf dem Bürgersteig
habe ich freien Blick auf unseren Hauseingang; wenn Winnie zurückkommt,
während ich hier sitze, kann ich sie gar nicht verfehlen.
Nach
einer Stunde habe ich den Wein ausgetrunken, den Salat aufgegessen und die New
York Times gelesen. Außerdem noch einen Kaffee und ein Glas Grappa getrunken und mich eine Weile mit Carmencita Velasquez unterhalten, einer kräftigen Puertoricanerin, die in der
katholischen Kirche gegenüber arbeitet. Sie kennt hier im Viertel alle und
redet mit allen; eine ihrer wichtigsten Aufgaben besteht darin, die Kinder über
die Straße zu schleusen, wenn sie auf dem Weg zur oder von der Schule sind,
jeden Morgen und Nachmittag sorgt sie dafür, dass der Verkehr auf der Carmine und Bleecker einige Minuten lang vollkommen still steht.
Wenn irgendwelche Taxi- oder Busfahrer ungeduldig werden und hupen, geht sie
zu dem betreffenden Fahrzeug hin und schlägt mit der geballten Faust eine
Delle ins Blech. Kinder sind das Leben und die Zukunft, meint Carmencita Velasquez. Sie selbst hat acht Stück, aber auch das Jüngste ist bereits
übers Teenageralter hinaus und von zu Hause ausgezogen.
Sie
weiß, dass ich schreibe, und sie selbst liest so einiges. Aber sie hat nicht
viel für diese jungen westlichen Autoren übrig. Mit »jung« meint sie Leute
unter fünfzig.
»Ihr
habt doch nichts erlebt«, stellt sie fest und verschränkt die Arme vor ihrem
beeindruckenden Busen. »Das ist das Problem. Ihr wart mal besoffen, habt
versucht, euch zu paaren, ihr habt jemanden in der
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