Nesser, Hakan
die Cellosuiten, wenn du
sie findest. Ich muss noch
ein wenig arbeiten.«
»Trinkst
du anschließend noch ein Glas Wein mit mir?«
»Kann
sein«, sagt Winnie, meine Ehefrau. »Kann sein. Leg erst mal Bach auf, dann
sehen wir weiter.«
Ich
tue ihr den Gefallen und entschließe mich zu einem Spaziergang im Regen.
Als
ich zurückkomme, ist es zehn Uhr, und Winnie ist immer noch oben im Loft. Ich
habe die letzte halbe Stunde in einer Bar auf der Bedford verbracht. Habe ein
Bier und einen Mojito getrunken
und mich in meiner Einsamkeit gesuhlt. Ich weiß, dass ich betrunken bin und
dass ich direkt ins Bett gehen sollte, stattdessen klettere ich die Leiter zu
Winnie hinauf.
Sie
sitzt vor einer kleinen dunklen Leinwand und tupft vorsichtig mit dem Pinsel,
ich stelle mich hinter ihren Rücken und versuche zu erkennen, was es darstellen
soll. Es gelingt mir nicht, vielleicht stellt es auch gar nichts dar. Keiner
von uns sagt etwas. Bachs Cellosuiten erklingen immer noch aus den Lautsprechern,
sie muss unten
gewesen sein und sie wieder angestellt haben. Ich möchte ihr am liebsten die
Hände auf die Schultern legen, doch das geht nicht. Ich denke, dass der Abstand
zwischen uns nie größer war als genau in diesem Moment, aber auch, dass sie
vielleicht genau den gleichen Gedanken denkt und dass uns das auf eine paradoxe
Art vereint. Das Gute mit dem Bösen.
In
dieser stummen, aber möglichen Vereinigung verharren wir eine ganze Weile.
Winnie tupft dunkle Farbe auf ihr dunkles Gemälde, ich stehe reglos da und
betrachte ihre Bewegungen. Nichts passiert, nur ab und zu rufen sich die
Geräusche der Stadt in Erinnerung. Sirenen, Hundegebell und Lachen. Ich
überlege, ob wir nicht bis in alle Ewigkeit so weitermachen könnten. Zumindest
für Stunden und Tage oder bis wir an Hunger und Austrocknung sterben, zwei
erstarrte Gestalten auf einem sinnlosen und gleichzeitig wahrheitsgetreuen
Gemälde, die Zeit scheint nicht zu vergehen, nichts verändert sich, nicht
einmal die Cellosuiten kommen zu einem Schluss, und vielleicht ist es das,
worüber Pascal gesprochen hat.
Vielleicht
sind es auch einfach nur banale Gedanken, die wie eine Schlangenbrut in meinen
berauschten Schädel schlüpfen. Ja, vermutlich ist es so. Ich hole tief Luft,
gehe die Leiter hinunter und ins Badezimmer.
Eine
Viertelstunde später liege ich im Bett und habe das Licht gelöscht. Winnie ist
immer noch oben im Loft. Ich nehme an, dass sie immer noch dunkle Farbe auf ihr
dunkles Gemälde tupft. Ich falte die Hände, aber kein Wort will mir
entschlüpfen.
Später
in der Nacht wache ich davon auf, dass sie weint. Sie liegt auf der Seite, von
mir abgewandt, und ihr Körper wird vom Schluchzen erschüttert. Vorsichtig lege
ich eine Hand auf ihre Schulter, doch das ändert nichts. Sie weint und weint,
ich streiche leicht über ihre nackte Haut und frage mich, ob sie wach ist oder
ob sie träumt. Mir wird klar, dass der Unterschied möglicherweise gar nicht so
groß ist, denn wahrscheinlich träumt sie von der Wirklichkeit, von der sie der
Schlaf eigentlich hätte befreien sollen. So soll es nicht sein, das hat keinen
Sinn, dennoch verhält es sich so.
Gleichzeitig
öffnet das Weinen eine Tür, zumindest einen Spalt weit, ich merke, dass sie mir
jetzt näher ist als vor ein paar Stunden oben im Loft. Vielleicht ist es ihre
Schwäche, die ich brauche, denke ich. Vielleicht ist das das ganze Geheimnis,
die ganze Zeit, seit Sarahs Verschwinden bis zu unserer Abreise nach New York,
habe ich sie auf Händen getragen - wobei es mir nicht gelingt, diese
Formulierung von Hertha Baussmann aus meinem Kopf zu verbannen -, aber seit wir
hierhergekommen sind, in diesen nur acht, neun Wochen, hat sie sich verändert.
Ist stärker geworden, wie es scheint, hat eine Haltung eingenommen und eine
Art Ziel gefunden, und ist es nicht diese plötzliche Stärke, die mir den Boden
unter den Füßen wegreißt? Ich habe nichts mehr, was ich auf Händen tragen kann,
und was um alles in der Welt soll ich dann tun? Welchen Dingen soll ich jetzt
auf den Grund gehen, wozu soll ich diese Hände benutzen? Braucht... braucht
der Patient den Arzt, oder ist es umgekehrt? Jäger oder Beute?
Ich
rümpfe die Nase über meine Gedanken. Erinnere mich erneut an Hertha Baussmanns
giftige Kommentare über die Ausreden der Schriftsteller; Carmencita Velasquez' übrigens auch. Dieser abgestandene, unausweichliche
Narzissmus. Um halb vier Uhr morgens. Zur Wolfsstunde. Winnie weint und weint.
Ich
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