Nesser, Hakan
betrachte meine Hand auf ihrem Arm und frage mich, ob er sich genauso fehl
am Platze fühlt, wie er aussieht. Einige Augenblicke lang wird plötzlich alles
unscharf, und mir fällt die Blindheit ein, die mich in Aarlach überfallen hat,
bevor ich Winnie zum ersten Mal sah. Mir kommt der Gedanke, das Gleiche könnte
wieder passieren, aber nachdem ich ein paar Mal gezwinkert habe, kehrt meine
Sehstärke mit der üblichen Schärfe wieder zurück.
Am
nächsten Morgen wache ich erst spät auf, und als ich aus dem Bett steige, weiß
ich, dass Winnie mich verlassen hat. Die ganze Wohnung riecht nach Abwesenheit,
und als ich aus dem Badezimmer komme, finde ich ihren Zettel auf dem Tisch. Es
sind nur wenige Zeilen.
Liebster
Erik,
ich
gehe jetzt und werde eine Weile fortbleiben. Bitte sei so gut und versuche
nicht, mich zu finden. Ich lasse in ein paar Tagen von mir hören, ich muss erst einmal allein sein, auch wenn du das nicht verstehen
kannst. Es geht um Sarah. Kuss, Winnie
Ich
lese den Zettel wieder und wieder. Zähle die Worte. Ich weiß nicht, warum ich das
tue, aber es sind neunundvierzig. Es geht um Sarah?
Ich
lasse mich auf einen Stuhl am Tisch sinken und stütze den Kopf in die Hände.
Meine Schläfen pochen, ich weiß mir keinen Rat.
Teil
II
20
Ich
träume immer wieder den gleichen Traum.
Ich
sitze an einem Tisch in einem Zimmer ohne Fenster. Die Wände sind kahl, es ist
warm, ein altmodischer Ventilator dreht sich nutzlos oben an der Decke. Mir
gegenüber sitzen ein Mann und eine Frau, beide um die fünfundvierzig, beide in
Uniform. Anfangs scheinen sie meine Anwesenheit gar nicht zu bemerken, sie
studieren jede Menge Dokumente, die sie ab und zu mit leisen Kommentaren
zwischen sich hin- und herschieben. Ich versuche etwas von dem, was sie sagen,
zu verstehen, aber es gelingt mir nicht. Vielleicht sprechen sie ja auch eine
Sprache, die ich nicht verstehe.
Nach
einer Weile - ich kann nicht sagen, wie viel Zeit vergangen ist, aber jedes
Mal, in jedem einzelnen Traum, muss ich
eine quälende Wartezeit durchstehen - schiebt die Frau alle Papiere zusammen
und richtet ihre Aufmerksamkeit auf mich. Der Mann ebenso, und jedes Mal stelle
ich genau in diesem Moment fest, dass es sich um die Kriminalinspektoren
Vendler und Tupolsky handelt.
Und
als mir das klar wird, habe ich gleichzeitig - auch das jedes Mal - das Gefühl,
als hätte ich es bereits vorher gewusst, aber insgeheim gewünscht, es würde
sich um ganz andere Menschen handeln.
Aber
es sind immer Tupolsky und Vendler, und es ist jedes Mal Tupolsky, der anfängt.
In einer Sprache, die ich nur zu gut verstehe.
»Herr
Steinbeck«, sagt er und beugt sich ein wenig über den Tisch. »Es gibt eine
Alternative, die wir bisher mit Ihnen noch nicht diskutiert haben.«
Er
klingt äußerst formell. Ich nicke und versuche mir einzureden, dass ich keine
Ahnung habe, worauf er anspielt.
»Eine
Alternative?«, wiederhole ich.
»Genau«,
sagt Tupolsky. »Es ist wichtig, dass wir nichts außer Acht lassen. Wir wollen
doch alle wissen, was mit Ihrer Tochter passiert ist. Nicht wahr?«
»Natürlich«,
sage ich.
Tupolsky
tauscht einen Blick mit Vendler und bekommt ein Blatt Papier. Doch bevor sie es
ihm gibt, kontrolliert sie zunächst, was darauf steht, was in einer Art
einstudierter Langsamkeit geschieht und in jedem Traum mit exakt der gleichen
Präzision. Während ich schwitzend ihre Aktionen beobachte, habe ich das Gefühl,
dass es sich eigentlich gar nicht um irgendeinen Traum handelt, sondern um
eine Filmaufnahme. Die dritte, achte oder fünfzehnte Aufnahme einer Szene, die
so gründlich misslingt, dass sie, wenn es noch eine Art Urteilskraft in der
Welt gibt, aus dem fertigen Film herausgeschnitten werden müsste, aber was
weiß denn ich, und auch diese Reflexion tritt jedes Mal mit irritierender
Beharrlichkeit auf.
»Wir
haben ja nicht so viele Zeugen«, erklärt Tupolsky.
Ich
antworte nichts.
»Tatsache
ist, dass wir nur eine einzige Zeugenaussage haben, auf die wir uns stützen
können, und das ist Ihre, Herr Steinbeck.«
Ich
erkläre, dass ich nicht weiß, was er damit sagen will.
»Wir
haben mit einigen Nachbarn gesprochen«, sagt Inspektorin Vendler. »Alle, die
wir haben erreichen können, alle, die zu dem betreffenden Zeitpunkt zu Hause
waren.«
»Insgesamt
elf Personen im Viertel«, souffliert Tupolsky von seinem Papier.
»Keinem
von ihnen ist irgendein fremdes grünes Auto in der Nachbarschaft
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