Nesser, Hakan
gestoßen war, was ich natürlich als Erleichterung empfand.
Ich meinte mich vage an seinen Namen erinnern zu können, aber ich war mir
vollkommen sicher, dass ich noch nie auch nur ein Wort von dem gelesen hatte,
was er geschrieben hatte.
Als
ich am selben Abend Winnie gegenüber Grimaux erwähnte, stellte sich heraus,
dass ihre Unkenntnis über diesen französischen Poeten genauso groß war wie
meine.
»Bernard
Grimaux?«, fragte sie. »Nie gehört von ihm. Wer ist das? Warum fragst du?«
Aus
irgendeinem Grund, ich kann nicht genau sagen, wieso eigentlich, erzählte ich
ihr nicht, wie ich auf seinen Namen gestoßen war. Damals nicht und auch später
nie. Ich erklärte ihr nur, dass er ein Gedicht geschrieben hatte, das ein wenig
an das von den Würmern erinnerte. Ein paar Tage später suchte ich ihn aber im
Internet und erfuhr unter anderem, dass er 1933 in New York gestorben war, erst
34 Jahre alt. Er hatte ein Jahr zuvor Frankreich verlassen, nachdem seine Frau
und seine Tochter bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer ums Leben gekommen
waren. In keinem der beiden Artikel, die ich las, wurde genau gesagt, an was
Grimaux verstarb, aber zwischen den Zeilen meinte ich lesen zu können, dass er
sich das Leben nahm.
Jetzt,
während ich in der Bibliothek sitze und über Bernard Grimaux schreibe, ist es
Dienstag, und Mr. Edwards' Platz ist leer. Obwohl ich fast warte, bis die
Bibliothek schließt, taucht er nicht auf, und mit einem leicht unruhigen Gefühl
begebe ich mich nach Hause in die Carmine Street.
17
»Wollen
Sie behaupten, Sie würden die Situation Ihrer Frau verstehen?«
Das
ist eine typische Hertha-Baussmann-Frage. Ein regnerischer Dienstag oder
Freitag im September oder Oktober, die Gardinen in ihrem dunklen Sprechzimmer
in der Ruyderstraat sind sorgfältig zugezogen, um die Umgebung außen vor zu lassen.
»Ob
ich Winnies Situation verstehe?«, wiederhole ich.
»Ja.«
Ich
zögere einige Sekunden mit meiner Antwort. »Sowohl ja als auch nein«, sage ich
dann.
»Was
bedeutet das?«, fragt Hertha Baussmann.
»Das
bedeutet«, sage ich und versuche die Müdigkeit zu überwinden, die mich
überfällt, weil ich hier sitzen muss und
diesen abgestumpften Ohren so etwas erklären soll, »das bedeutet, dass ich mir
vorstellen kann, welches Trauma es bedeuten muss, zwei Kinder zu verlieren, aber dass ich mir nicht sicher
bin, wie Sie das Wort verstehen auslegen.
Es gibt eine Grenze, die wir niemals überwinden können.«
»Entschuldigung«,
sagt sie und verzieht kurz den Mund. »Ich habe vergessen, dass Sie Wortkünstler
sind. Aber wenn wir jetzt mal alle denkbaren Doppelbedeutungen beiseite lassen,
können Sie mir sagen, in welcher Art sich Winnie verändert hat, seit Ihre
Tochter verschwunden ist? Die allerwichtigste Veränderung.«
»Sie
will nicht mehr leben«, sage ich.
Hertha
Baussmann nickt und kritzelt eine Zeit lang mit ihrem altmodischen
Füllfederhalter auf den Block, der immer vor ihr auf dem Tisch liegt. Ich
glaube nicht, dass sie etwas Verständliches schreibt, vielleicht will sie nur
den Anschein erwecken, als zeichnete sie etwas Wichtiges auf, aber mir ist aufgefallen,
dass es sich meist nur um unverständliches Gekritzel handelt. Vermutlich ist
das ihre Strategie, um Zeit zu gewinnen und nachzudenken.
»Das
ist eine ganz wesentliche Veränderung, nicht wahr?«
»Es
fällt mir schwer, mir eine größere vorzustellen«, stimme ich ihr zu. »Entweder,
man will leben, oder man will sterben. Das ist ein Wahnsinnsunterschied.«
»Zweifellos«,
nickt sie. »Und Sie selbst hegen keine Gedanken in dieser Richtung?«
»Mir
das Leben zu nehmen?«
»Ja.«
»Natürlich
habe ich die. Ich glaube, das sind Gedanken, die allen vernünftigen Menschen
hin und wieder kommen.«
»Nun
ja«, sagt Hertha Baussmann. »Darüber haben wir ja schon früher gesprochen. Und
ich respektiere Ihren Standpunkt. Aber es gibt da etwas anderes, was mich
verwundert.«
»Ja?«,
frage ich und denke, dass auch das ein sich immer wiederholendes Muster in
unserem Gespräch ist. Hertha Baussmann will, dass ich ihr etwas erkläre. Dinge, die sie nicht begreift. Ich bin mir nicht sicher, welches
therapeutische Motiv sich hinter dieser Taktik verbirgt, aber vielleicht gibt
es ja eines. Auf jeden Fall antworte ich normalerweise, da ich sie nicht enttäuschen
und nicht unhöflich wirken will.
»Ja,
wissen Sie«, führt sie aus. »Sie haben mir ja erzählt, dass Ihre Ehefrau Ihnen
vor der Hochzeit erklärt hat,
Weitere Kostenlose Bücher