Nesser, Hakan
Liebe enttäuscht und seid
auch selbst mal enttäuscht worden. Einige von euch haben ein paar Tage lang mal
Angst gehabt. Das reicht für jämmerliche drei Kapitel, aber dann ist Schluss, korrigiere
mich, wenn das nicht stimmt.«
Ich
lade sie auf ein Glas Wein ein und überlege, ob ich ihr erzählen soll, dass ich
eine verschwundene Tochter und eine Ehefrau kurz vorm Nervenzusammenbruch mit
mir herumschleppe, beschließe dann aber, es lieber nicht zu tun. Vielleicht
hat sie ja recht, vielleicht sollte ich den Stift ein für alle Mal hinlegen
und aufhören, mir etwas einzubilden.
»Nimm
es mir nicht übel«, sagt sie, als sie meine Unschlüssigkeit sieht.
»Diejenigen, die wirklich etwas zu erzählen haben, die haben weder Zeit noch
Möglichkeit, es zu tun, so einfach ist es in dieser Welt eingerichtet.«
Jemand
ruft sie von der Kirchentreppe auf der anderen Straßenseite, sie trinkt ihren
Wein aus und verlässt mich. Ich bezahle und gehe nach Hause. Fühle mich
lustlos und müde und frage mich, wie lange man eigentlich ohne irgendeinen
Antrieb im Körper weiterleben kann.
Es
ist bereits Viertel nach acht, als Winnie nach Hause kommt, und bis dahin habe
ich drei weitere Gläser Wein getrunken. Oder vier, ich kann mich nicht mehr so
genau erinnern. Der Regen prasselt auf unser Dachfenster, wenn man ein paar Kerzen
anzündete, wäre es stimmungsvoll bis an die Grenze zum Romantischen.
Aber
ich habe keine Kerzen angezündet.
19
»Weißt
du noch, wie dieser Dichter hieß?«
Das
ist eine wohl überlegte Spieleröffnung, und obwohl der Wein in meinen Adern
braust, achte ich aufmerksam auf ihre Reaktion.
»Dichter?
Was für ein Dichter?«
»Na,
dieser französische Surrealist, der über die Würmer geschrieben hat, bevor du
und ich es getan haben. Weißt du nicht mehr?«
»Doch,
schon, aber ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Warum fragst du?«
Ich
zucke mit den Schultern und versuche desinteressiert zu wirken. »Ist mir nur so
durch den Kopf gegangen. Gri...? War das nicht irgendwas mit Gri...?«
»Keine
Ahnung. Wie viel Wein hast du getrunken?«
»Ein
paar Gläser. Wo bist du gewesen?«
Sie
antwortet nicht, und das tut sie auf die natürlichste Art und Weise, indem sie
meine Frage einfach ignoriert. Sie geht ins Badezimmer, ich höre, wie sie die
Dusche anstellt, und es dauert mindestens zwanzig Minuten, bevor sie wieder
auftaucht. Der Regen prasselt stetig auf unser Dachfenster, und es wird langsam
ziemlich dunkel, aber ich mag noch kein Licht einschalten. Sie hat sich ein
Handtuch um den Körper geschlungen und eins um die Haare. Ich denke, dass sie
ja möglicherweise sehr wohl weiß, wie dieser Parapsychologe heißt, sie aber
den Namen des Poeten vergessen hat, genau wie sie behauptet. Während ich das
denke, habe ich das Gefühl, ich tue das aus einem Bedürfnis heraus, ihr zu
verzeihen. Ich möchte alles möglichst positiv interpretieren.
»Wie
geht es dir eigentlich?«, frage ich.
Sie
gibt keine Antwort. Geht zum Schrank, trocknet sich noch eine Weile ab und
schlüpft dann mit ihrem schlanken Körper in ihre bunte Malerkluft. Ich
wiederhole meine Frage.
»Wie
geht es dir, Winnie?«
»Ich
weiß nicht so recht«, antwortet sie und betrachtet mich kurz. Vielleicht auch
etwas verärgert. »Ich dachte, wir wären übereingekommen, uns nicht zu fragen,
wie es uns geht. Das führt doch zu nichts.«
Ich
kann mich nicht so recht an eine derartige Übereinkunft erinnern und versuche
das Winnie zu erklären. Doch ich merke, dass sie gar nicht zuhört. Sie geht
nach oben ins Loft und fängt an, zwischen ihren Leinwänden, Pinseln und Farbtuben
zu suchen. »Ich muss noch
ein bisschen malen«, sagt sie. »Hast du etwas dagegen?«
»Ich
erkenne dich nicht wieder«, erkläre ich.
»Wie
bitte?«, fragt Winnie. »Was hast du gesagt?«
»Ich
erkenne dich nicht wieder«, wiederhole ich.
»Auf
welche Zeit beziehst du dich?«, fragt sie.
»Was
meinst du damit?«
»Erkennst
du mich nicht wieder, wenn du an die Zeit denkst, als ich im Krankenhaus war?
Oder wie ich vor drei Jahren war? Oder vor einer Woche?«
Ich
merke, dass sie jetzt ernsthaft verärgert ist. Gleichzeitig finde ich ihre
Frage berechtigt.
»Ich
beziehe mich auf alle«, antworte ich. »Auf alle.« Es dauert eine Weile, bevor
sie wieder etwas sagt. »Du warst mit einer Woche einverstanden«, erinnert sie
mich.
»Ich
weiß«, sage ich. »Und jetzt sind vier Tage vergangen.«
»Du
könntest ein wenig Musik machen«, sagt Winnie. »Gerne
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