Nesthäkchen 03 - Nesthäkchen im Kinderheim
ihr nah. So folgte sie schmollend Ellen und Gerda, die zur Treppe gingen.
Inzwischen tat es Miß John leid, daß sie der kleinen Fremden, die ja noch nicht die Hausordnung kannte, den ersten Verweis in ihrer neuen Heimat gegeben hatte.
»Du brauchst nicht zu sein betrübt, Annemarie«, sagte sie beim Verlassen des Zimmers, die Wange des kleinen Mädchens klopfend. Aber Annemarie war gar nicht mehr »betrübt«. Die sauste bereits wieder zur Verwunderung der Engländerin höchst fidel das blanke Treppengeländer hinab.
Miß John schüttelte den Kopf, sie mochte nicht schon wieder schelten.
»Ei, Annemarie, du hast wohl gleich ausgepackt?« scherzte Tante Lenchen, die Kleine auf einen leeren Stuhl neben sich ziehend. Sie ahnte nicht, daß sie das Richtige getroffen hatte. Annemarie wurde rot.
»Bitte, Tante Lenchen, seien Sie nicht böse, ich wollte Ellen und Gerda so gern die neuen Sachen in meinem süßen Köfferchen zeigen. Und dabei habe ich alles furchtbar liederlich gemacht - aber Miß John hat schon geschimpft«, setzte sie noch schnell hinzu. Als ob Tante Lenchen das nicht mehr nötig hätte.
Zum Abendbrot gab es Himbeergrütze mit Butterbroten. Das schmeckte Annemarie. Wenn nur nicht ein Becher Milch vor jedem Gedeck gestanden hätte.
Pub. - Milch trank sie so ungern! Noch dazu mit der dicken Sahne, welche die gute Hanne zu Hause »ihrem Kinde« stets vorher durchsiebte. Nein, die konnte sie bestimmt nicht herunterkriegen. Als die Becher schon alle geleert waren, stand der ihre noch unberührt.
»Na, Annemarie?« sagte Tante Lenchen und nichts weiter.
Das genügte aber auch. Während Mutti und Fräulein Lena zu Hause sich stets den Mund fusselig reden mußten, bis Nesthäkchen sich dazu bequemte, ihre Milch zu trinken, leerte es hier in wenigen Zügen den Becher.
Nach dem Essen schaffte Tante Lenchen Ordnung in dem wüsten Durcheinander, das Annemarie in ihrem Zimmer angerichtet hatte. Zum Spielen kam die Kleine freilich nicht mehr. Aber es war ebenso hübsch, Tante Lenchen beim Einräumen der Sachen zu helfen und alles von ihr bewundern zu lassen.
Um acht Uhr läutete es zum Schlafengehen. Müde von der Seeluft und all dem Neuen, das sie heute erlebt, streckte sich Nesthäkchen zum ersten Mal auf ihrem Lager in Villa Daheim aus. Gerade als sie anfangen wollte zu weinen, weil Mutti nicht wie sonst zu ihr kam, um ihr den Gute-Nacht-Kuß zu geben, kam ein anderer - der Sandmann. Schwapp - warf er ihr die Blauaugen voll Sand, und da schlief die Annemarie auch schon, und im Traum war sie bei ihrer Mutti.
Oll Modder Antje
Eine Glocke weckte Annemarie in aller Frühe am andern Morgen. Sie war noch ganz verschlafen und glaubte, in Berlin zu sein.
Himmel - war das nicht die Schulglocke - kam sie zu spät in die Schule?
»Fräulein - Fräulein - es läutet - Margot ist bestimmt ohne mich heute in die Schule gegangen«, mit beiden Beinen zugleich sprang Annemarie erschreckt aus dem Bett.
Aber verdutzt blickte sie um sich. Da war kein Fräulein Lena und keine Berliner Kinderstube. In den Betten drüben an den rosenrot getünchten Wänden lagen zwei fremde Kinderköpfe eingekuschelt, ein brauner mit Zöpfen und ein rötlich blonder Lockenkopf.
Ach - sie war ja im Wittdüner Kinderheim! Jetzt wußte Nesthäkchen wieder Bescheid. Der Lockenkopf da drüben, der müde zu ihr hinblinzelte, gehörte ihrer neuen Freundin.
»Du Gerdachen, es hat eben zur Schule geläutet, du mußt aufstehen«, flüsterte Annemarie, da Ellen noch fest schlief.
»I wo, das war doch die Dampferglocke«, Gerda legte sich gähnend auf die andere Seite und tat es Ellen nach.
Aber Nesthäkchen war jetzt ganz ausgeschlafen, das mochte nicht noch einmal zurück ins Bett. Viel verlockender war es, in der neuen Heimat auf Entdeckungsreisen auszugehen.
Geräuschlos kleidete Annemarie sich an. Mit dem Kämmen war die Sache schon schwieriger. Die welligen Blondhaare waren hier durch den ständigen Wind noch zerzauster als in Berlin. Annemarie riß, zerrte und ziepte, aber sie wollten sich nicht entwirren lassen.
»Na, denn nicht -dann gehe ich eben so!« Nesthäkchen schlich barfuß zur Tür hinaus. Vater hatte ja gesagt, sie dürfe in Wittdün barfuß laufen, und gestern hatte sie viele Jungen und Mädchen ohne Schuhe und Strümpfe am Strand gesehen.
Das Treppengeländer hinuntergerutscht, und nun stand sie in dem mit Korbsesseln und blühenden Töpfen geschmückten Vorraum. Alles still - das ganze Haus schien noch zu schlafen. Kein
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