Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
Kläuschen mußte sich von seinem Sechser trennen.
Gute Vornahme
Bei dem vielfachen Lesen des Briefes der Mutter fiel Annemarie aber noch anderes ein als nur die deren Rückkunft. Schrieb Mutti nicht, sie hoffe, daß ihre Lotte gut für die Großmama sorge, soviel das in ihren Kräften steht?
Nesthäkchen wurde rot.
Hatte es wohl jemals daran gedacht, daß sie irgendwie für Großmama sorgen könnte? Bisher hatte es alle Liebe und Aufopferung der Großmama als etwas Selbstverständliches hingenommen. Kein Gedanke war Annemarie je gekommen, daß es umgekehrt sein könnte, daß sie auch die Pflicht habe, die Großmama, die trotz ihres Alters den Enkelkinder Ruhe und Bequemlichkeit geopfert hatte, zu umhegen und zu umsorgen. Nun hatten die Zeilen der Mutti ihr die Augen geöffnet.
Und wie stand es mit dem darauffolgenden Satz in Muttis Schreiben? Hatten Klaus und sie selbst der Großmama ihr Amt nicht recht oft noch erschwert? Annemarie war ehrlich genug, auch in Gedanken nichts zu beschönigen. Wie oft hatte sich Großmama um das Ausbleiben von Klaus gesorgt. Wie oft rief sie zusammenfahrend hinter ihnen her: »Kinder, tut mir bloß den Gefallen und schmettert die Türen nicht so ins Schloß!« Hatte sie jemals daran gedacht, Großmama diesen eigentlich selbstverständlichen Wunsch zu erfüllen? Ja, immer erst, wenn es zu spät war, wenn die Tür bereits krachend zugeflogen und Großmama ihren Schreck weg hatte. Und so gab es noch hundert kleine Dinge, bei denen sie nicht genug Rücksicht auf die Großmama genommen hatte. Ganz abgesehen von Malen, wo sie nicht immer Großmamas Anordnungen mit freundlichem Gesicht nachgekommen war. Wo sie in ungezogener Weise geknurrt und gemurrt, wenn ihr etwas nicht paßte, ja, einmal sogar ganz ungehörig widersprochen hatte.
Bis an die Blondhaare stieg der Kleinen das Blut bei dieser unangenehmen Erinnerung, Großmama hatte ihrem Herzblatt längst verziehen, und doch - heute mußte Annemarie daran denken, wie wohl Mutti über das Verhalten ihres Nesthäkchen urteilen würde.
Aber das sollte anders werden - ganz bestimmt. Bei allem, was sie tat, wollte Annemarie von nun an denken, was wohl Mutti dazu meinen würde.
Man soll nie etwas auf die lange Bank schieben. Gleich am selben Tage begann die Kleine noch damit, nun auch ihrerseits für die liebe Großmama Sorge zu tragen.
Großmama wußte gar nicht, wie ihr geschah. Mittags bei Tisch zeigte Nesthäkchen lebhaftes Interesse dafür, ob Großmama auch eine recht weiches Stück Braten habe, da alte Leute doch nicht mehr so gute Zähne hätten. Als Großmama sich zum zweitenmal Speise nahm, gab das Enkeltöchterchen mahnend, wenn auch bescheiden, zu bedenken, ob Großmama sich nicht in den Magen verderben könnte. Zum Nachmittagsschlummerstündchen schleppte Annemarie Decken und Tücher herbei, als ob Großmamas Sofa am Nordpol und nicht im geheizten Zimmer stünde. Als sie aber Großmama möglichst fest in die selben einzuwickeln begann, warf die alte Dame schwer atmend ein Stück nach dem andern wieder ab: »Herzchen, ich erstickte ja!«
Nesthäkchen stand bestürzt da. Ja, wenn Großmama nicht für sich sorgen lassen wollte!
Leider wußte die Tür noch nichts von Annemaries guter Vornahme. Gerade, als sie dieselbe leise schließen wollte, entwischte sie ihr und knallte krachend ins Schloß. Da öffnete Annemarie sie noch einmal und schloß sie nun leise, wie sich's gehört.
»Weißt du, Großmuttchen, ich möchte Fräulein bitten, den Kaffeetisch für uns lieber in der Kinderstube zu decken. Wenn meine vier Freundinnen heute nachmittag kommen, daß hältst du nicht aus, das ist bestimmt zuviel Radau für dich!«, hatte Annemarie bereits am Vormittag der Großmama vorgeschlagen.
Diese hatte sie ganz verständnislos angesehen. Ihr Lebtag hatte sich Annemarie nicht darum gekümmert, ob etwas zuviel Radau machte oder nicht. Was für ein guter Geist war denn plötzlich in sie gefahren?
Als sich die zärtliche Fürsorge bei Nesthäkchen für Großmamas Wohl im Laufe des Tages aber immer mehr steigerte, wurde die Sache noch rätselhafte.
Pünktlich um vier Uhr erschienen die Schulfreundinnen, Margot, Marlene, Ilse und Marianne. Annemarie hatte sie zum ersten Feiertag eingeladen, um den gemeinsamen ‚Junghelferinnenkind‘ seinen Weihnachten aufzubauen.
Tagelang vorher hatte Annemarie bereits ein niedliches Puppenweihnachtbäumchen für ‚ihren Jungen‘ geputzt. Der thronte in der Mitte des weißgedeckten
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