Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
erglühende kleine Mädchen. »Kurt hat mir viel von dir erzählt, ein halber Junge scheinst du mir danach ja schon immer gewesen zu sein, nun bist du wohl ein ganzer geworden?«, sagte sie scherzend mit einem Blick auf die Hosen.
»Nee - nee - ich - ich wollte bloß so schrecklich gern mit Klaus - das hier ist mein Bruder Klaus - mit zur Wollsammlung«, stotterte Annemarie verwirrt.
»Ich habe immer gedacht, du würdest mich mal besuchen, Annemarie, du hattest es mir doch versprochen. Aber du scheinst mich ganz vergessen zu haben«, meinte Kurt ein wenig vorwurfsvoll.
»Ja, ich habe über den Krieg wirklich vergessen, dich zu besuchen, Kurt«, gab Annemarie zu. »Und an Gerda Eberhard in Breslau, mit der ich in Wittdün so befreundet war, habe ich auch noch nicht geschrieben.« Es kam ja öfters mal vor, daß das kleine Fräulein etwas vergaß.
»Dann holt es nächsten Sonntag nach, kommt alle beide zu meinem Kurt, ich freue mich, wenn er fröhliche Altersgenossen hat«, forderte die Mutter freundlich auf.
Die Geschwister dankten und machten sich mit ihrer Einladung und dem großen Wollbündel wieder auf den Weg. Kurt gab ihnen bis zur Tür das Geleit. Er mußte zwei Stöcke dazu benutzen.
»Kannst Du noch immer nicht richtig gehen, Kurt?«, fragte Annemarie den hinkenden Knaben mitleidig.
Der schüttelte den Kopf. »Nein, es war in Wittdün schon besser. Aber ich bin ganz zufrieden, wenn ich jetzt die armen Soldaten auf der Straße sehe, die nicht mal mehr ihre Beine haben. Also auf Wiedersehen am Sonntag!«
Kurt winkte den beiden vom Balkon aus noch nach.
Weiter ging es Haus für Haus, Wohnung für Wohnung. Freundliche und unfreundliche Menschen lernte Annemarie auf ihrer Wanderung kennen. Der dicke Schlächtermeister zog sich seine Wollweste direkt vom Leib: »Ach, wat, nehmt man den Lumpen noch mit, Jungs, unsere Soldaten brauchen es nötiger als ich.« Der Bierwirt an der Ecke lud sie sogar zu einer ‚kleenen Weiße‘ ein und reichte Annemarie das große Bierglas mit den Worten hin: »Da stärke dir, mein Junge.«
Das machte Doktor Brauns durchtriebenen Sprößlingen natürlich heillosen Spaß.
Wenigster spaßig fand Annemarie es, daß die ihnen überlieferten Lumpen manchmal recht unappetitlich waren. Zwei wollene Pferdedecken schanzte sie geschickt Klaus zu, weil ihr Näschen dafür zu vornehm war. Das Riechorgan von Klaus war weniger empfindlich.
»So, nun kommt das letzte Haus, dann wird wieder ausgetauscht«, Klaus zog Annemarie mit sich.
»Hier werden wir feine Sachen kriegen, das sind sehr vornehme Leute«, flüsterte Nesthäkchen, ehrfurchtsvoll auf das Türschild weisend. »Von Hohenfeld, königlicher Regierungsrat«, las Klaus.
Das Hausmädchen öffnete und brachte den Kindern die Wollspende in die blumengeschmückte Diele hinaus.
»Ist es hier aber nobel«, Annemarie sah sich neugierig um.
Da gewahrte sie, aus einer Türspalte lugend, zwei große, tiefblaue Kinderaugen. Nanu - Annemaries Herz begann plötzlich zu hämmern - die kannte sie doch! Wie kam denn bloß die ‚Polnische‘ hier in die feine Wohnung?
Auch Vera hatte die Schulkameradin trotz ihres merkwürdigen Aussehens jetzt erkannt. Ein Glücksschimmer flog über das feine, blasse Gesicht des kleinen Mädchens, ungestüm riß es die Tür auf und eilte hinaus.
»Annemarrie« - Vera konnte sich das schnarrende Rrr nicht abgewöhnen - »kommst du mirr besuchen?« beide Hände streckte sie in ihrer Freude dem Mädchen entgegen, das sie stets verächtlich behandelt, das die Schuld daran trug, daß sie so vereinsamt in der Schule war.
In peinlichster Verlegenheit stand Annemarie vor ihr. Kein Wort brachte das sonst so kecke Mädel über die Lippen.
Da erschien Veras Tante, Frau von Hohenfeld, in der Tür. Klaus zog die Mütze, und Annemarie, eingedenk der Weisung des Bruders, tat es ihm höflich nach. Verwundert blickte die Dame auf den hübschen Jungen, dem zwei goldblonde Mädchenzöpfchen auf dem Kopf wuchsen.
»Ihr wollt die Wollsachen holen, Kinder, ich habe meinen ganzen Mottenschrank geräubert, na, nehmt nur alles mit für unsere braven Krieger«, damit händigte sie ihnen die Sachen ein.
Inzwischen flüsterte Vera der Tante in heller Aufregung zu: »Tante - Tante - das ist Annemarie Braun aus meiner Klasse.«
»Ei, sieh mal an, eine kleine Mitschülerin! Unsere Vera wird gewiß gern mit dir spielen wollen. Wenn Du Zeit hast, bleibe noch ein bißchen bei uns, mein Kind«, wandte sich Frau Regierungsrat jetzt
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