Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
aburteilen, ihr jungen Grünschnäbel, ihr! Vielleicht auch über die Eltern zu Hause, falls euch an ihrer Erziehung irgendetwas nicht paßt? Da seid ihr ja mal wieder gründlich auf dem Holzweg in eurer Neunmalklugheit. Schülerräte sollen zu dem Zweck gebildet werden, um das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern zu bessern. Die Schülerräte sollen die Kameraden zum Guten beeinflussen, damit die Lehrer erst gar nicht strafen müssen. Sagen Sie mal, Annemarie Braun, sind Sie denn davon überzeugt, daß Ihr heutiges Verhalten Fräulein Neubert gegenüber vor einem derartigen Schülerrat hätte bestehen können?«
Annemarie stand stumm. Es kam nicht oft vor, daß sie eine Antwort schuldig blieb. Nein, höflich und bescheiden hatte sie sich heute gewiß nicht benommen.
»Sie sprechen sich selbst durch Ihr Schweigen das Urteil. Und nun gehen Sie und schämen Sie sich Ihrer kindischen Unvernunft.« Eine kurze Handbewegung scheuchte das Kleeblatt im Nu aus dem Zimmer.
Ja, Nesthäkchen schämte sich grenzenlos. So sehr, daß es all den neugierigen Fragen der in der Klasse auf sie Harrenden kaum standzuhalten vermochte. »Der Direktor ist nicht für Schülerräte ... er ist schon zu alt für moderne Bestrebungen.«
Das war alles, was man aus Annemarie herausbekam. Nie mehr in ihrem ganzen Leben gründete sie wieder irgendeinen Verein!
Versetzungszensuren
Der Zensurentag für die Osterversetzung war in diesem Jahr auf den 9. April festgesetzt. O Tücke des Schicksals! Der 9. April war von jeher der wichtigste Tag in Nesthäkchens Leben ... ihr Geburtstag. Schlimmer konnte es nicht kommen!
Grau und unfreundlich blinzelte der 9. April ins Fenster hinein, als hätte er noch nicht recht ausgeschlafen. Auch das Geburtstagskind blinzelte müde aus seinen Kissen heraus. War es nicht das beste, heute überhaupt nicht aufzustehen? Aber die Geburtstagsfeier nachmittags mit den Freundinnen, all die Geschenke ...
»Ach was, ich bin feige!« Damit sprang Annemarie in ihre roten Pantoffeln.
Meistens war ihr Geburtstag in den Osterferien gewesen. Fiel Ostern spät, dann pflegte der Geburtstagstisch erst mittags, wenn sie aus der Schule kam, ihrer zu warten. Auch heute wurde erst mittags beschert. Nur ein Strauß Frühlingsblumen prangte vor Annemaries Frühstücksplatz, und natürlich die große Torte, die Hanne alljährlich für »ihr Kind« zu backen pflegte. »Für unser Nesthäkchen« stand stets darauf in Zuckerschrift.
»Hanne, ich glaube, zu meinem siebzigsten Geburtstag backen Sie mir auch noch die Nesthäkchentorte«, lachte Annemarie, die sich mit ihren sechzehn Jahren dem Nesthäkchenalter ungeheuer entwachsen fühlte.
»Allemal, wenn ich denn noch leben tu. Unser Nesthäkchen biste und bleibste!«
Annemarie, sonst ein strahlend heiteres Geburtstagskind, mußte sich heute zusammennehmen, um einigermaßen froh zu erscheinen. Als der Vater sie liebevoll in seine Arme schloß: »Mach uns weiter Freude wie bisher, meine Lotte«, da hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte losgeheult.
Essen konnte Annemarie absolut nichts heute morgen, nicht einmal Kuchen.
»Versetzungsfieber«, stellte Klaus als Arztsohn fachgemäß fest, machte, daß sie fortkam.
Margot Thielen, mit der Annemarie täglich den Schulweg zurücklegte, hatte es gut. Die brauchte keine Angst zu haben, nicht nach Obersekunda versetzt zu werden. Die war solch eine pflichteifrige und bescheidene Schülerin, daß sie sicher wieder mit einer Auszeichnung versetzt wurde.
Die Freundinnen in der Schule waren alle schrecklich aufgeregt. Würde Fräulein Neubert ihnen den Konditortadel ins Zeugnis geschrieben haben?
»Du hast wenigstens heute Geburtstag, Annemie. Da wird das Donnerwetter bei dir zu Hause nicht allzu arg werden«, meinte Ilse ein bißchen neidisch.
»Wenn die Neubert mir das 'Lobenswert' im Betragen verdorben hat, darf ich bestimmt heute nachmittag nicht zu dir kommen«, überlegte Marianne bedrückt.
Marlene Ulrich sagte nichts. Keinen Ton brachte sie vor Aufregung hervor. Vera hielt Annemaries kalte Hand in der ihren.
»Man wird versetzen dirr bestimmt, Annemie. Du brauchen nicht ängsten«, tröstete sie leise. Dabei schlug ihr eigenes Herz ganz beklommen. Wer konnte wissen, ob in der Versetzungskonferenz nicht an ihrem fehlerhaften Deutsch Anstoß genommen worden war.
Endlos lange erschien den Mädeln heute die Feier in der Aula. Der Gesang der Schülerinnen, die Rede des Direktors, die Entlassung der Abgehenden ... endlich,
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