Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
fließend.
»Setzen!« Fräulein Neubert machte sich eine Notiz in ihrem Büchlein. »Zu welcher Gattung Gedichte gehört das glückhafte Schiff von Zürich?«
Die Untersekunda machte gerade keine schlauen Gesichter. Nur ein Zeigefinger erhob sich. Er gehörte zu Annemarie, die für deutsche Literatur besonderes Interesse hatte.
Die Lehrerin schien es nicht zu bemerken.
»Weiß es keine?«
»Ich ... ja, ich ...« Zu überhören war Annemaries laute Stimme wirklich nicht.
Aber Fräulein Neubert brachte das Kunststück fertig.
»Ist es ein lyrisches Gedicht?« fragte sie wieder.
»Nein« ... »Nee« ... Annemaries Stimme rief am lautesten von allen; ihr Zeigefinger fuhr wild im Kreise durch die Luft.
»Also was für eins?«
»Ein erzählendes!« ... Annemarie schrie es einfach, ohne gefragt zu sein.
»Hier hat nur diejenige zu sprechen, die ich aufrufe.« Fräulein Neubert runzelte die Stirn.
»Na, wenn ich nicht aufgerufen werde, mehr als melden kann ich mich nicht«, gab Annemarie ungezogen zur Antwort.
»Annemarie Braun, ich glaube, du willst heute zum zweiten Mal Bekanntschaft mit dem Klassenbuch machen.« Die Lehrerin griff nach dem gefährlichen Buch.
»Durchaus nicht ... aber Luft bin ich nicht ... und wenn ich mich am Unterricht beteilige ...« Das junge Mädchen wurde bald blaß, bald rot vor Aufregung.
»Schülerinnen, die sich ungehörig benehmen, existieren für mich nicht. Und nun wünsche ich kein Wort mehr über die Angelegenheit zu hören.« Fräulein Neubert schrieb mit schönen großen Buchstaben Annemarie Braun einen Tadel.
»Das lasse ich mir nicht gefallen ... ich gehe zum Direktor. Wir bilden Schülerräte. Solche Behandlung brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen. Die Jugend hat auch ihre Rechte!« wütete Annemarie vor sich hin, während Vera sie vergeblich zu besänftigen suchte: »Nicht sprrechen so laut ... du fliegen herraus!«
Annemarie war in ihrer Erregung alles gleich ... keine Träne kam ihr über den Tadel. Ohne sich um den Fortgang der Stunde noch zu kümmern, nahm sie ein Buch aus der Mappe und schlug es auf. Wenn Fräulein Neubert sie vom Unterricht ausschloß ... schön, ihr sollte es recht sein.
Die Kameradinnen sahen mit erstaunten Blicken auf Annemarie. Da hatte sie doch tatsächlich auf dem Schultisch das französische Buch aufgeschlagen. Marianne Davis drehte sich beinahe den Hals aus, um diese Sehenswürdigkeit eingehend zu betrachten, während Vera ihr ängstlich zuflüsterte: »Buch machen zu ... Frräulein Neubert sehen herr mit grroße Eulenaugens.«
Annemarie ließ sich nicht stören. Sie hörte den Vortrag der Lehrerin über Johann Fischart, den Verfasser des vorhin besprochenen Gedichtes nicht, denn sie hatte sich absichtlich beide Zeigefinger in die Ohren gestopft. Erst als Ilse Hermann, die vor ihr saß, aufgerufen wurde und ängstlich den Kopf mit dem glattgescheitelten Blondhaar nach allen Seiten wandte, ob sich nicht eine mitleidige Seele ihrer Unwissenheit erbarmte, wurde sie aufmerksam.
»Kannst du uns wirklich kein anderes Werk dieses erzählenden Dichters nennen, Ilse Hermann?«
Ilse stand ratlos und nahm aus Verlegenheit ihren Bleistift in den Mund.
»Flöhhatz«, trompetete es da plötzlich durch die Stille. Einen Augenblick saßen die Mädels starr über Annemaries Unverfrorenheit. Dann aber brach die Klasse in ein lautes, nicht zu bändigendes Gelächter aus. »Ruhe ... ich verlange augenblickliche Ruhe!« Die Stimme der Oberlehrerin legte sich eisig auf das helle Mädchenlachen. »Annemarie Braun, du verläßt unverzüglich die Klasse.«
»Ich habe nichts weiter getan, als ein Werk von Fischart genannt.« Annemarie schlug ihren Racine mit lautem Knall zu und verließ erhobenen Hauptes den Schauplatz ihrer Heldentaten.
Aber so gleichgültig, wie sie sich äußerlich den Anschein gab, war ihr innerlich nicht zumute. Grenzenlos gedemütigt fühlte sie sich in ihrer Sekundanerwürde. Rausgeflogen war sie aus der Klasse ... an die Luft gesetzt worden ... Annemarie stieß wütend mit dem Fuß gegen den steinernen Boden, daß es laut durch den Flur hallte.
So ließ sie sich nicht behandeln. O nein! Heute noch gründete sie einen Schülerrat, der beim Direktor vorstellig werden mußte.
Am liebsten wäre Fräulein Heißsporn sofort zum Direktor gelaufen und hätte sich über die ihr zugefügte Behandlung beschwert. Aber alles muß seine Ordnung haben. Gemeinsam mußten sie vorgehen, nur Einigkeit macht stark. Die Glocke erlöste
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