Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
irgendein Privatmittagstisch. Da ißt man sicher noch besser als im Restaurant.« Keck zog Annemarie bereits die Klingel.
Eine der beiden Studentinnen, welche den Freundinnen als Leithammel gedient hatten, öffnete. »Sie wünschen?«
»Ach, wir würden hier gern Mittagbrot essen, können wir etwas bekommen?« fragte Annemarie als Sprecherin für alle drei.
»Bei uns?« Hellauf lachte die junge Dame. Ihr Lachen lockte ihre Gefährtin aus dem Zimmer herbei.
»Reserl, schau, die Damen wünschen bei uns zu speisen. Da kommen's heut grad' recht, gelt?« Beide lachten herzerfrischend, daß Marlene, die jetzt das Wort ergriff, sich kaum verständlich machen konnte.
»Verzeihung, meine Freundin glaubte, daß hier im Hause ein privater Mittagstisch wäre. Entschuldigen Sie bitte den Irrtum.« Es war Marlene peinlich, sich auslachen zu lassen.
Annemarie sah darin durchaus nichts Peinliches. Im Gegenteil, sie stimmte herzlich in das Lachen ein und steckte auch Ilse damit an.
»Dazu sind wir eine Stunde lang hinter Ihnen hergelaufen. Wir glaubten, da Sie Studentinnen sind, würden Sie in einem preiswerten Lokal speisen, und liefen deswegen immer hinter Ihnen her«, plauderte Annemarie unbefangen.
,,O jegerl, wir haben heut mittag, weil das Kolleg so spät lag, nur noch ein paar Quarkknödel von gestern. Wir kochen nämlich selbst«, ging das andere junge Mädchen lustig auf Annemaries Auseinandersetzungen ein.
»Aber ein Lokal, in dem man was zu essen bekommt, könnten Sie uns vielleicht empfehlen?« Marlene ging gleich auf das Ziel los.
»Freilich - freilich! Gehen's nur nach dem Vereinshaus. Da ist's gut und billig.
Gleich am Markt das Gäßle, zu dem die Stieg' 'nauf führt.«
»Vielen Dank!« Mit freundlichem Gruß und knurrendem Magen setzte sich das Kleeblatt wieder in Bewegung.
Wenn er Hunger hat, wird der sanftmütigste Mensch aufsässig. Und gar so sanft war Marlene Ulrich nicht.
»Das hast du fein gemacht«, sagte Marlene ärgerlich.
»Mach's besser!« gab Annemarie frech zurück.
»Wenigstens haben wir doch ein gutes Lokal in Erfahrung gebracht«, kam Ilse als Friedensengel dazwischen.
»Dazu mußten wir eine Stunde herumirren und uns noch außerdem lächerlich machen.«
Jetzt zog die hungrige Marlene sogar gegen die unschuldige Kusine los.
»Lächerlich machst du dich jetzt - und wenn ihr weiter miteinander rumboxen wollt - viel Vergnügen! Ich ziehe es vor, in das Vereinshaus zu gehen.« Nesthäkchen machte energisch kehrt.
Die Kusinen hielten es auch für geratener, zu folgen. Eine jede ärgerlich auf die andere.
Aber als man im Vereinshaus, einem alten, höchst einfachen Lokal, vor einem guten Teller Suppe saß, hob sich die Stimmung. Und auch die Freundschaftsgefühle erwärmten sich allmählich wieder.
Wirklich, sie hatten es gut getroffen. Trotz der fehlenden Tischtücher und der einfachen Blechbestecke war das Essen vorzüglich und selbst für den jugendlichen Hunger der drei ausreichend. Dazu war es so preiswert, daß Annemarie meinte:
»Ich glaube, wir kriegen hier noch Geld dazu.«
Das erste Kolleg
Trotz des Verzeichnisses von den zur Vermietung gemeldeten Zimmern, das die drei Freundinnen in der Universität erhalten hatten, war es nicht leicht, eine passende Wohnung ausfindig zu machen. Das lag nicht nur an den Wohnungen, sondem an den drei verschiedenen Köpfen, von denen jeder etwas anderes wollte.
Nach vielem Umherlaufen, treppauf, treppab, wählte man schließlich das geeignetste. Zwei nette »durcheinanderlaufende« Zimmer, wie die freundliche Wirtin sie den jungen Studentinnen anpries. Alles war passend, sauber und den Geldbeutel nicht allzusehr schmälernd. Ein malerisches Fachwerkhäuslein, von wildem Wein umklettert, für das Ilse sofort eingenommen war. Aus dem zweifenstrigen Zimmer genoß man den Blick auf die graue Burg Hohentübingen mit ihren gewaltigen Quadermauern, Türmen und Zinnen. Das danebenliegende einfenstrige Zimmer ging nach der anderen Seite hinaus, mit Ausblick in das Burggärtchen und auf den Neckar. Es ergab sich ganz von selbst, daß die beiden Kusinen das große Zimmer bezogen und Annemarie das kleine. So konnte sie unbekümmert ihre Siebensachen auspacken und einräumen, wie es ihr beliebte, ohne von der »Gouvernante Marlene« dabei kontrolliert zu werden. Während Marlene ihre mit rosa Bändchen gebundene Wäsche in die Kommodenkästen säuberlich schichtete und Ilse sich Mühe gab, es ihrem Vorbild nachzutun, war Annemarie längst mit allem
Weitere Kostenlose Bücher