Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
diesen lustigen jungen Burschen gegenüber hatte es dasselbe Gefühl, als wenn es daheim mit Klaus und Hans sprach.
»Oh - Kolleginnen!«
»Seid gegrüßt!« Hände streckten sich den dreien so herzlich und erfreut entgegen, daß selbst die schüchterne Ilse und die zurückhaltende Marlene kameradschaftlich einschlugen.
»Krabbe, Neumann, Egerling, alle drei aus dem Schwabenland.« Die drei klappten die Hacken zusammen und nannten nach allen Regeln des Anstandes ihren Namen. »Und wer seid's denn ihr?«
»Marlene Ulrich, Ilse Hermann, Annemarie Braun, das ist meine Wenigkeit«, lachend übernahm Annemarie die Vorstellung.
»Und was wollt's denn werden?«
»Ich werde Naturwissenschaften studieren« - »Ich neue Sprachen« - »Und ich will die arme Menschheit ins Jenseits befördern helfen« - das war natürlich wieder Annemarie.
»Famos! I bin auch Mediziner. Der Krabbe studiert aufs Habe Viehle, und der Egerling wird halt geischtlich. Hören's auch beim Bergholz?«
»Freilich, morgen früh hab' ich mein erstes Kolleg.«
»Großartig - da treffe mer uns. Wo seid's denn daheim?«
»In Berlin - waschecht mit Spreewasser getauft.«
»Brrr - für die Berliner Großschnäuz' hat' i nix nit übrig.« Das war Krabbe.
»Aber weil's gar so liab ausschaut, mag's euch verziehe sein, daß ihr halt Berliner seid.«
»Erstens bin ich aus Charlottenburg, und wenn ihr die Berliner Großschnäuz' nicht mögt, ich finde die schwäbische Großschnäuz' nicht netter.« Annemarie war nicht auf den Mund gefallen und ihre Heimat ließ sie sich noch lange nicht schlecht machen.
»Kratzbürscht, kleine! 's ischt ja nur halb so schlimm g'meint«, begütigte Egerling.
»Seid's doch gemütlich, Kinder, gebt's Patscherl und laßt uns halt Frieden schließe.« Treuherzig sah der lange Neumann sie an.
»Drei schmucke Berlinerinnen mag i halt lieber leide als sechs garstige Widerwurzen von Stuckart.« Krabbe schien der lustigste zu sein.
Da lachten sie alle miteinander, und der Frieden war wiederhergestellt.
»Jetzt kommt's, Kinderle, daß wir euch mit eurer neuen Heimat bekannt mache.«
Selbst Marlene verlor diesem harmlos kollegialen Ton gegenüber ihre Zurückhaltung und wurde gemütlich.
»Also, luegt's, erseht das Schloß. Der Herzog Ulrich von Württemberg hat den Bau begonnen. Das hat schon mehr Fehden mit anschaue müsse, als halt die unsrige soeben. Dort in dem Seitenbau ischt die Universitätsbibliothek, wenn's mal brav sein wollt und büffeln. Und dahier zu unserer Linken, das ischt halt der Haschpelturm, der altersgraue, verwitterte Gesell. Da hat man die Gefangenen früher mit einer Winde in den Hungerturm hinuntergehaschpelt. Daher der Name. Wenn's wieder mal kratzbürschtig seid, kommt ihr da hinein.« Egerling machte ein strenges Gesicht.
»Himmlisch gruselig«, lachte Annemarie.
»Gruselig wird's erseht. Kommt's, wir steigen jetzt in die Unterwelt.«
»Was - da hinunter?« Ilse faßte Marlenes Arm.
»Natürlich müssen wir das unterirdische Verlies sehen. Schade, daß man nicht mehr hinabgehaschpelt werden kann«, bedauerte Nesthäkchen aufrichtig.
»Das Mädle hat Kurasch'!« Bewundernde Studentenblicke folgten Annemarie, die als erste mutig die alten Steinstufen hinabstieg.
Bei dem unterirdischen grünlichen Dämmerlicht unterschied man in dem Kellergewölbe ein großes Faß.
»Gar so arg haben's die Gefangenen hier im Hungerturm nicht gehabt. Für den Durst war wenigstens gesorgt«, meinte Marlene belustigt.
»Ganz ähnlich wie das Heidelberger Faß. Gibt's hier auch einen Zwerg Perkeo mit dem Fuchsschwanz, der einem plötzlich ins Gesicht fährt? Mein Bruder Hans hat mir davon erzählt.«
»Hier saßen halt andere zu Gericht. Die heilige Feme hatte dereinscht hier ihr gefürchtete Stätte.« Mit Grabesstimme sagte es einer der Studenten, um den Mädchen Angst zu machen. Bei Ilse gelang ihm das auch.
»O Gott - ich halt's hier nicht mehr aus.« Ilse zog mit Gewalt Marlene zum Tageslicht zurück.
»Hasenfuß!« lachte sie Annemarie aus. »Hast selbst bei der heiligen Feme zu unserem Abiturientenfest mitgespielt, und jetzt bist du bange davor. Wehe - wehe - wehe!« Mit erhobenen Händen folgte Annemarie der ängstlichen Freundin.
»Famoses Madie!« Die Studenten waren begeistert von Annemaries Lebhaftigkeit. Dann standen sie wieder draußen am Schloßaltan und blickten über den Burggraben hinweg in die dämmerige Landschaft.
»Schaut's, da ganz in der Ferne das Schiefergebirge. Die flache Kuppe,
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