Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Annemaries Seite schlagend. »Ich denk', es kommt noch nit so schnell herauf. Schlimmstenfalls warten wir das Wetter in der Höhle ab.«
Ilse Hermann machte angstvolle Augen. Ein Gewitter war ihr an und für sich recht unbehaglich, und nun noch dazu in einer Höhle. »Ist's denn wirklich so sehenswürdig?« fragte sie und lugte zaghaft in die dicken, weißgrauen Wolkenschwaden.
»Angstmeier! Wenn du feige bist, geh doch den direkten Weg nach Honau zurück. Wir treffen uns dann am Bahnhof«, machte Annemarie sie herunter.
»Allein? Bei Blitz und Donner? Da bedank' ich mich schön!« Ilse zog es doch vor, sich der Karawane anzuschließen.
Siedend heiß stand die Luft. Kein Lüftchen wehte.
Dumpf begann es in der Ferne zu grollen. Sie traten aus dem Wald auf eine Lichtung hinaus. Da packte sie plötzlich ein Wirbelwind. Dicke Staubwolken jagte er empor, daß man kaum die Augen zu öffnen vermochte. Mit den ersten schweren Regentropfen standen sie am Eingang der Höhle. Drei kleine Büble, die Führer in die Unterwelt, hatten unter einem weitvorspringenden Fels Unterschlupf gesucht. Eifrig kamen sie herbei, schlossen den Zugang auf und entzündeten ihre Kienfackeln. Feuchte Moderluft schlug den Eintretenden entgegen. Gespenstisch herumirrende Lichter warfen die Fackeln in die schwarze Finsternis.
»Wollen wir da wirklich hinunter?« Ilse fand die gewitterschwere Dunkelheit draußen immer noch weniger beängstigend als den schwarzen Schlund da unten, der ihnen entgegengähnte. Annemarie zog sie energisch mit sich.
Feuchtglitschrige Stufen gab es dort und vermorschte Bretter in Morast gelegt.
Von den Wänden und der niedrigen Felsdecke sickerte in gleichmäßigem Tropfenfall das Wasser hernieder.
Durch ein Labyrinth von unterirdischen Gängen ging es.
»Wenigstens ein bombensicherer Fliegerunterstand«, scherzte Hans.
»Hoffentlich auch vor Donner und Blitz!« meinte Ilse inbrünstig. Unausgesetzt hörte man dumpfes Rollen und Krachen.
Prachtvolle Tropfsteingebilde leuchteten und glimmerten aus der Dunkelheit.
»Wie in den römischen Katakomben, dieses Gewirr von Gängen; hoffentlich finden wir wieder zum Ausgang zurück.« Marlenes Worte ließen Ilses Herz noch heftiger schlagen. Wenn die kleinen Buben nicht wieder zurückfanden! Der Gang verbreiterte sich.
»Hier ischt halt d' Kanzel, dort drübe, das ischt der Bismarck«, erklärte der größte Hosenmatz.
»Auch hier bereits alles auf den Fremdenverkehr zug'schnitten«, sagte Rudolf mißbilligend. »Ich glaub' nit, daß der Bismarck hier unten schon zu Ulrich von Württembergs Zeiten historisch war.« Immer tiefer ging's in den Berg hinein. Ja, hier war der Geächtete sicher gewesen vor den Spürhunden seiner Verfolger.
Tropfsteine bildeten eine Grotte. Man stand am Ende der Höhle.
»Da ischt halt der Stuhl und der Tisch, an dem der Herzog gesesse ischt.« Das Büblein wies auf einen größeren und einen kleineren flachen Felsstein. »Hierher hat ihm sein G'treuer, der Pfeifer von der Hardt, der die Nebelhöhle entdeckt hat, heimlich des Nachts Speis und Trank zug'trage.« Es klang so eintönig, als ob das Büble das Vaterunser herbetete.
Stumm blickten die Besucher auf den Ort, an dem Württembergs Herzog einst in schwarzer Finsternis lebendig begraben gewesen war. Alles Witzeln verging den sonst so Lustigen vor dem Ernst der Geschichte an dieser schaurigen Stätte.
Die Fackeln leuchteten zurück. »Hier ischt ein See, der ischt arg tief, wer da hineinfalle tut, kommt nimmer wieder.« Das Büble wies auf ein schwarzes, von Felsen umstandenes Loch. Aus dem Gestein blitzte und funkelte es wie Diamanten.
Nesthäkchen, fürwitzig und keck, mußte unbedingt in die Tiefe hineinschauen.
Der feuchte Boden war glitschig. Annemaries Fuß fand keinen Widerstand. Sie kam ins Rutschen. Sie wollte schreien - aber die Stimme versagte ihr vor Entsetzen - Barmherziger - ging es jetzt hinunter in die entsetzliche Tiefe?
Starke Arme packten sie und rissen sie empor.
»Annemarie, um Gottes willen, was haben Sie da gemacht?« Das war Rudolf Hartensteins erschreckte Stimme.
Annemarie vermochte nicht zu antworten. Sie wußte nichts davon, daß Rudolfs Arme sie noch immer umschlungen hielten, daß sie den Kopf an seine Schulter lehnte. Das Entsetzen hatte sie vollständig gelähmt.
»Annemarie - liebe Annemarie, was ist Ihnen geschehen?«
Da kam wieder Leben in Annemaries erstarrte Glieder. Ungestüm machte sie sich aus seiner Umarmung frei.
»Nichts - gar nichts -
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