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Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Titel: Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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übermütig die Begleitung. Alle Köpfe drehten sich um. Vom Briefkasten her kam die Musik. Dort stand ein bildhübsches, goldhaariges Dirndl und ließ sein Akkordeon dröhnen.
    »Bravo - bravo!« Der Beifall nach Beendigung des Liedes galt mehr der jungen Akkordeonspielerin als dem gutgemeinten Gekrächze auf dem Podium.
    Nesthäkchen sprang von seinem erhöhten Sitz herab. Es griff nach seinem weichen Filzhut, »Bibi« genannt.
    »Bitt' schön, für die arme Frau!« Sie begann für die traurige Künstlerin, die ihr Mitleid erregt hatte, zu sammeln. Da war nicht einer, der nicht in die Tasche griff
    und der liebenswürdigen Fürsprecherin gern sein Scherflein zusteuerte. Der »Bibi« füllte sich. Hans und Rudolf Hartenstein hatten etwas tiefer als die anderen in die Tasche gegriffen. Ja, Nesthäkchen hatte die Genugtuung, der Direktorin der berühmten Wanderkünstler »Nimmer dagewese« eine recht beträchtliche Summe, die freudestrahlend in Empfang genommen wurde, auszuhändigen.
    Das Kunstbedürfnis des Schwäbischen Wanderbundes war nun befriedigt. Man überließ die Plätze den glücklichen jugendlichen Eroberern und zog weiter zum Bahnhof, um noch das Zügle ins Lichtensteingebiet zu erreichen.
    »So, Annemie, ich hoffe, das war dein erster und dein letzter Schwabenstreich!« sagte Hans und zog die Schwester neckend am Ohrläppchen.
    »Du, was denkst, jetzt geht's erst los.« Nesthäkchen lachte den Bruder einfach aus.
    »Annemarie, ich hätt' Ihnen halt was abzubitten«, begann Rudolf Hartenstein auf dem Wege zum Bahnhof, als sie allein gingen. »Ich war Ihnen bös, daß Sie diese Briefkasten-Extratour gemacht haben. Aber jetzt bin ich's nimmer. Sie haben der Frau mehr Gutes getan als wir mit unsern vornehmen Plätzen.«
    »Sie haben mir noch mehr abzubitten, mein Herr.« Annemarie setzte eine strenge Miene auf. »Ja, das wäre?« verwunderte sich Rudolf Hartenstein.
    »Diebstahl haben Sie begangen, Raub aus dem Hinterhalt-« Immer strafender wurde Nesthäkchens lustiges Gesicht.
    »Da muß ich doch ganz energisch Protest erheben, ich fühl' mich halt keiner Schuld nit bewußt.«
    »So?« Annemarie klopfte auf den schwarzen Kasten an Rudolfs Seite.
    »Aha - daher pfeift der Wind. Den Raub nehm' ich schon auf mich.« Er dachte an ein Bild, das er neulich heimlich am Tübinger Marktplatz gestohlen hatte: Nesthäkchen mitten in der Prügelei mit Vronli und Kaschperle. Wenn sie das erst wüßte! »Ich muß doch halt eine Erinnerung an unser Beisammensein mitnehmen, wenn ich zum September in die Ferne nach Berlin geh'«, entschuldigte er sich.
    »Ja, wenn's dazu erst des Kastens hier bedarf«, entfuhr es Annemarie in ihrer raschen Art.
    »Gelt, dessen bedarf's nimmer, ich trag' Ihr Bild auch ohnedies mit mir.« Zärtlich erfaßte Rudolf Annemaries Hand.
    »Neschthäkche - Neschthäkche - beeilt's euch - 's Zügle wird gleich abgehe!« schrie der Viehdoktor gerade in dem Augenblick dazwischen. Die beiden Hände lösten sich erschreckt.
    Natürlich hatte der Zug noch zehn Minuten Aufenthalt, natürlich hatte der Viehdoktor mal wieder geflunkert.
    Es war schon spät, als man in Honau am Fuße des Lichtensteins anlangte. Die Gasthäuser waren von Sommerfrischlern überfüllt. Man mußte sich dazu bequemen, in der Scheune zu übernachten. Der fidelen Stimmung des Wanderbundes war dieses elegante Quartier durchaus angemessen. Lachend kletterten Annemarie und Ilse die Hühnerleiter zum oberen Heuboden hinauf und betteten sich dort oben ins duftende Heu. Marlene und Ola machten es sich unten bequem. Die Herren zogen ins Heulager nebenan.
    »Wehe euch, wenn ihr schnarcht oder gar im Schlafe sprecht - Ola, sind Sie etwa mondsüchtig und fangen an zu nachtwandeln?« Es dauerte lange, bis Ruhe bei der ausgelassenen Gesellschaft eingekehrt war.
    Mitten in der Nacht war's. Da gab's mit einem Male einen dumpfen Krach - ein erschreckter Aufschrei, dem ein dreifaches Echo folgte. Dann helles Lachen.
    »Um Himmels willen, was ist denn das?« Marlene rieb sich die Augen. »Dieses war der zweite Streich - und der dritte folgt sogleich«, klang es lachend neben ihr.
    »Sind denn das nit Sie, Annemarie?« Ola tastete an ihre linke Seite, wo es vorher leer gewesen war. Da packte sie ein Bein.
    »Halt - das ist meins!« schrie Annemarie lachend.
    »Annemarie, wo bist du denn?« Ilses angstvolle Stimme erklang aus der Höhe.
    »Hier!«
    »Wo - wo denn? Du hast doch vorhin neben mir geschlafen.« Vergebens tastete Ilse nach der Freundin.

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