Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
in Annemaries Augen schien plötzlich zu erlöschen.
»Mit dem Rudi? Hahahaha - ich bin' vielmals um Entschuldigung, wenn ich lach', aber das kommt mir doch zu komisch vor. Die beiden sind ja wie Schwester und Bruder. Nein, einem jungen Privatdozenten, der von Tübingen nach Freiburg gegangen ist, hat sie's angetan. Mein Onkel fährt nach Titisee, damit die zwei öfters zusammen sein können.«
»Da wünsche ich Ihrer Kusine alles erdenkliche Glück!« Aus vollstem Herzen kam Annemarie dieser Wunsch. Die Abneigung, die sie von Anfang an Annelise gegenüber gefühlt hatte, war plötzlich von ihrer Seele gewichen.
»Eifersucht - lächerliche Eifersucht ist's gewesen - schäme dich«, sagte Nesthäkchen ehrlich und war trotz dieser wertlosen Strafpredigt plötzlich unsagbar froh.
»Nein, der Rudi, der darf mir noch nicht ans Heiraten denken. Als Kinder haben wir es uns immer schon ausgemalt, wie wir später wieder beisammen wohnen werden, wenn er erst Arzt sein wird. Denn das war schon als Bub sein Wunsch.
Sobald er sich einmal niedergelassen hat, ziehen wir zusammen, und ich mach' mir ein gemütliches Heim mit dem Rudi.«
»Was redet's von mir?« Der Vorangehende, der seinen Namen gehört hatte, blieb neugierig fragend stehen.
»Denkmal, Rudi, Fräulein Annemarie hat g'meint, daß du und« Ola, die mit harmlosem Lachen die falsche Mutmaßung berichten wollte, kam nicht weiter.
Annemaries Hand legte sich beschwörend auf den lachenden Mund. »Nicht verraten - bitte, bitte, versprechen Sie's mir. So, Herr Doktor, jetzt habe ich auch mein Geheimnis.«
»Also, da sind wir quitt von vorhin«, scherzte Rudolf.
»Quitt - jawoll! Ihr Verbrechen wird noch geahndet.« Aber gar so bös sah Annemarie dabei nicht aus, obwohl sie doch zuerst ärgerlich genug auf ihn gewesen war.
Die Sonne stand schon schräg, als man nach Reutlingen zurückkehrte. Auf dem Marktplatz herrschte lebhaftes Treiben. Ein Wanderzirkus hatte inzwischen seine Pforten geöffnet. Aber obwohl mit großen Lettern zu lesen stand: Eröffnungsspiel der berühmten Wanderkünstler »Nimmer dagewese«, obwohl der Hanswurst auf der kleinen Bretterbühne das Programm in den lockendsten Farben anpries, war der Besuch nur recht schwach. Wenigstens innerhalb der gezogenen Barrieren. Draußen drängten sich die Zaungäste. Barfüßige Buben und Mädel hockten auf dem Gitter, auf allen Steintreppen und Brünnle.
»Eine kunstbegeisterte Stadt«, lachte Hans, auf die leeren Plätze weisend.
»Als Fremde haben wir die Verpflichtung, mit gutem Beispiel voranzugehen«, schlug Marlene vor.
»Fahrendes Volk ischt's, wie wir, unterstütze wir die Kunscht!« Neumann warf sich in die Brust. »Ich nehm' halt für uns alle Eintrittskarte.«
»Hascht denn noch soviel im Säckle?« erkundigte sich Krabbe vorsichtshalber.
Neumann würdigte ihn gar keiner Antwort. »Erschten Platz, anders tun mer's nit. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht - Krabbe, pump mir mal drei Mark, 's reicht halt nit ganz.«
»Das hab' i im voraus schon g'wußt.« Die Karten wurden erstanden.
»Aber Kinder, wir werden doch nicht soviel Geld für so'n Jux ausgeben«, begann Nesthäkchen zu protestieren. »Wenn Neumann nobel sein will, soll er's auf eigene Kosten tun, nicht auf unsere. Ich klettere hier auf den Briefkasten, da seh' ich besser als vom ersten Platz.« In der Tat, das Mädel thronte plötzlich zum Gaudium der Umstehenden droben auf dem Kasten.
»Aber, Annemie, komm doch, wir können doch den armen Neumann nicht mit den acht Karten sitzenlassen«, stellte Ilse fest.
»Ist mir ganz wurscht, dann soll er ein andermal vorher fragen.«
»Annemie, benimm dich doch nicht so auffallend, komm, wir gehen alle hinein.«
Marlene versuchte sie herabzuziehen.
»Viel Vergnügen, ich genieße das Schauspiel vom hohen Olymp herab. Schenk meine Eintrittskarte einem von den Buben, Hans. Da machst du wenigstens noch jemand damit glücklich.«
Das erste Schauspiel war, daß sich sämtliche Büble und Mädle, welche Annemaries Worte gehört hatten, um den vornehmen Platz zu prügeln begannen. Dann begann die Vorstellung auf den Brettern.
Eine traurige Hanswurstlustigkeit. Das armselige Elend der so schmuck aussehenden grünen Fensterwagen offenbarte sich. Eine nicht mehr junge Frau, verhärmt, mit bunten Füttern behangen, trat auf und sang mit ausgeleierter Stimme und traurigen Augen lustige Verse zu Volksweisen.
Da - herrliche Musik, ein Akkordeon erklang von irgendwoher und übernahm
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