Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
vorüber. Da zog er höflich den weichen Hut.
»Pardon - kommt es sich mit Bahn zu Potsdam Place?« Er wies zu der Untergrundbahn hinab.
»Jawohl - drüben der Eingang.« Und da er sie nicht recht zu verstehen schien, setzte sie hinzu: »Ich fahre auch dorthin.« Gleich darauf aber biß sie sich ärgerlich auf die Lippen, denn der Herr zog aufs neue den Hut, sagte: »Eh bien, das sein gutt, serr gutt«, und schritt mit einer Selbstverständlichkeit, die Ursel zuerst unverschämt fand, jetzt neben ihr her. Aber der Fremde benahm sich durchaus korrekt. Er ging ruhig seiner Wege. Freilich wollte es der Zufall - oder hatte er ihm ein wenig unter die Arme gegriffen, denn das reizende, blonde Mädel mit dem wütenden Gesicht gefiel ihm - ja, der Zufall wollte es, daß er dasselbe Bahnabteil wie sie, und zwar vor ihr, betrat, so daß er den letzten Sitzplatz erwischte und ihn ihr mit »biete serr« kavaliermäßig überließ.
Ursel dankte durch Kopfnicken und zog ein Büchlein aus der Tasche, um sich darin zu vertiefen. Aber das gelang ihr nicht. Ihre Gedanken irrten zu der Gesangstunde zurück. Zum ersten Mal in ihrem Leben war es ihr peinlich, Muttis klaren Augen gegenüberzutreten. Nicht einmal mit einem schlechten Schulzeugnis hatte sie ein derartiges Unbehagen empfunden. Daß sie ihre Enttäuschung und ihren Ärger für sich behalten mußte, lag auf der Hand. Hans würde sich die gute Gelegenheit nicht entgehen lassen, sie aufzuziehen und zu foppen. Und der Vater bekam Oberwasser, daß er es ja vorausgesehen hatte, daß sie für die Oper weniger geeignet war, als für die Bank. Auch Mutti würde höchstwahrscheinlich an ihrer Begabung zu zweifeln beginnen, wenn eine Künstlerin wie die Gerstinger von einem »Stimmchen, das erst noch werden muß«, gesprochen hatte.
Wieder ging eine Zornwelle über Ursels ausdrucksvolles Gesicht und färbte es rot. Dabei fühlte sie, daß sie in ihrer Gemütserregung beobachtet wurde. Der Fremde hatte inzwischen ihr schräg gegenüber Platz genommen und blickte über sein Zeitungsblatt gelegentlich zu ihr hinüber. Wieder sah sie das belustigte Lächeln um seine Lippen spielen, und die schwarzen Augen blitzen. Das vermehrte ihren Ärger noch. Als sie sich erhob, da der Potsdamer Platz erreicht war, von wo aus sie die Stadtbahn benutzen mußte, grüßte er wiederum.
In dieser angenehmen Stimmung kam Ursel von ihrer ersten Gesangstunde heim. Dort war Frau Annemarie frohgemut beim ersten Spargelstechen, während der Professor, gemütlich seine Feierabendzigarre rauchend, in den Gartenwegen auf und nieder schritt und jede Stange begutachtete.
»Schau nur, Ursel, wie Glas ist der Spargel heuer. Der soll heute abend mal munden, gelt?« rief er der Tochter entgegen. »Ja, was unser Mutterle pflanzt, das gedeiht.«
Die ganze innige Liebe für seine Frau kam in den Worten des Professors zum Ausbruch. »Ach, schon Spargel«, sagte Ursel. Ihre Stimme klang nicht so hell und klar wie sonst. »Tag, Vaterle, Tag, Muzi.« Sie wollte möglichst schnell ins Haus.
Aber der Vater hielt sie zurück. »Na, wie war's denn, Ursele? Was war denn nun heut schöner, die Gesangstunde oder die Bank?«
»Die Bank doch natürlich.« Es war kein freies von Herzen kommendes Lachen, das Ursels Worte begleitete. War es nicht in der Bank wirklich noch besser gewesen als in der Gesangstunde? Wenigstens hatte sich dort nur Herr Müller geärgert und nicht sie. »Also, was hat die Gerstinger zu ihrer neuesten Konkurrenz gemeint?« stimmte die Mutter in den munteren Ton des Vaters ein. Da war sie, die Frage, vor der Ursel gebangt hatte.
»Och«, machte sie so obenhin, »das kann man doch natürlich in der ersten Stunde noch gar nicht beurteilen, Muzichen. Vorläufig hat sie mich nur Töne singen lassen und dabei auf meinen Bauch gedrückt wie auf eine Gummiquietschpuppe. Da soll nämlich irgendwo das Zwerchfell sitzen, Vater, weißt du. Und man muß fühlen, wie sich das dehnt.« »Also anatomische Vorstudien«, schmunzelte der Vater. »Nun immerzu, wenn es dir Freude macht. Nur bitt' ich mir aus, daß du deine Pflichten in der Bank darüber nicht vernachlässigst. Verstanden, du Schlingel?«
»Au, du tust mir ja weh!« Ursel machte sich aus des Vaters festem Griff unmutig los. Sie vergaß Cäsar, der sie freudig umkreiste, den ihm zukommenden Willkommensklaps zu verabfolgen. So schnell es ging, entschlüpfte sie ins Haus.
»Allzu begeistert scheint mir die Ursel nicht von ihrer ersten Gesangstunde zu sein,
Weitere Kostenlose Bücher