Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
brasilianischen Geschwister hatten verwunderte Gesichter gemacht, als das deutsche Mädchen der alten Dienerin so stürmisch an den Hals flog und sie küßte. Die Schwester sprach ihr Erstaunen dem Bruder gegenüber in ihrer Heimatsprache aus, worauf dieser, nachdem Hanne das Zimmer verlassen hatte, meinte: »Oh, tut man hier in die Deutschland, daß Herr und Diener sich küssen?«
Hellauf lachte Ursel. »Nein, bei uns in Deutschland 'küssen' sich Herr und Diener für gewöhnlich auch nicht. Aber erstens bin ich kein Herr, und zweitens ist Hanne kein Diener. Nicht mal eine Dienerin. Sondern unsere gute, treue Hausgenossin, die schon meine Mutter als Kind auf den Armen getragen hat.«
»Bei uns in Sao Paulo Diener ist Neger oder Mulatte. Herr ist Herr - Diener ist Diener«, sagte Milton Tavares mit dem Stolz seiner Rasse. »Finde ich gar nicht schön«, kritisierte Ursel ungeniert.
»Oh, Brasilien schon - serr schön. Bahia, das ist Hafen von Sao Paulo, schönstes Hafen von Welt. Und Mulatte-Diener auch gut, serr gutt.«
»Vor Mulatten und Negern als Köchin und Stubenmädchen würde ich mich totgraulen - hu!« machte Ursel.
»Hu?« wiederholte Milton Tavares. »Graulen, was ist?« »Fürchten - craindre.«
»Oh, man muß nicht fürchten, Mulatte ist gutt«, verteidigte der Brasilianer seine Heimat. Er wiederholte der Schwester portugiesisch das Gespräch, worauf diese in französischer Sprache die junge Deutsche von den Reizen und Vorzügen ihres Vaterlandes zu überzeugen versuchte. Ursel verstand nicht viel mehr davon als die junge Brasilianerin vorher von ihrem Deutsch. Aber das verstand sie, als mit einem Mal Tränen aus den dunklen Samtaugen tropften - Margarida Tavares hatte Heimweh.
Mitleidig schlang Ursel den Arm um das fremde Mädchen, das in ihrem Alter sein mochte. »Es wird Ihnen schon bei uns in Deutschland gefallen, sobald Sie nur erst die Sprache verstehen«, sagte sie tröstend und streichelte die nasse Wange.
»Vous etes charmante.« Ehe Ursel wußte, wie ihr geschah, hatte die impulsive Brasilianerin sie auf beide Wangen geküßt.
Dann stülpte Ursel ihren Hut auf das Blondhaar. Es war jetzt die höchste Zeit für sie zu gehen. Sonst kam sie daheim zu spät zum Abendbrot. Sie verabschiedete sich zärtlich von der Großmama. »Donnerstag komme ich wieder zur Stunde, Omamachen. Jetzt hast du öfters das Vergnügen, mich zu sehen.«
»Die Häufigkeit muß mich dann wohl für die Gründlichkeit deines Besuches entschädigen, Herzchen«, meinte die alte Dame mit feinem Lächeln.
»Weil ich mich heute sowenig mit dir unterhalten habe, Omama?« Ganz bestürzt blickte Ursel drein.
»Nein, nein, mein Liebling, ich machte nur Scherz. Deiner alten Omama genügt es, wenn sie dich nur sieht. Das ist ihr schon Freude genug. Und der kleinen Marga gönne ich, daß sie in dir eine Altersgenossin findet. Das arme Mädchen ist ganz vereinsamt hier.« »Du mußt sie am Sonntag mit zu uns herausbringen. Sie und auch den Bruder«, bat Ursel lebhaft. »Ja, wollen Sie kommen?« Sie reichte Milton Tavares die Hand.
»Ich werde kommen - ich werde gehen mit bis Bahn.« Kavaliermäßig wollte er ihr das Geleit geben.
»Nein, ich meine, ob Sie und Ihre Schwester uns zu Hause besuchen wollen - visiter«, setzte sie noch hinzu, damit er sie auch ganz bestimmt nicht mißverstand. Der Brasilianer strahlte über das ganze Gesicht. »Ah, venir voir, merci - merci millefois. Wir werden gehen serr gern bei Sie, Donna Ursel.«
Er ließ sich nicht davon zurückhalten, Ursel bis an die Bahn zu begleiten. Auch die Schwester schloß sich an und hakte sich zutraulich bei ihr unter.
An der Waterkant
Vor dem grauen, von wilden Rosen umkletterten Herrenhaus zu Lüttgenheide ging es recht lebhaft zu. Laute Jungenstimmen mischten sich mit Hammerschlag, übertönten den Schwalbengesang am altersgrauen Schloßturm. Die kräftigen Schlingel waren damit beschäftigt, das Hausportal, das die Inschrift »Ilsenheim« trug, mit hellgrünen Maien zu schmücken. Einer stand oben auf der Leiter und befestigte die maigrünen Birken, die ihm sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Werner zureichte. Günther, ein siebenjähriger Flachskopf mit den lustigen Braunaugen seines Vaters, mühte sich vergeblich, die Birkenbäumchen, die größer waren als er selbst, von dem Handwagen, mit dem die Buben sie eigenhändig aus dem Walde geholt hatten, abzuladen. Und Klein-Horst, ein dralles Bübchen von noch nicht einem Jahr, kugelte sich daneben auf
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