Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
gepreßt hatte, und leckte ihr tröstend die Hand.
»Komm, Cäsar, komm, du braver Kerl, du wenigstens hast mich noch lieb.« Wie früher in ihrer Kinderzeit, wenn es Strafe gesetzt hatte und Ursel in irgendeinem Winkel ihren Eigensinn ausschluchzte, schlang sie die Arme um den Hals des vierfüßigen Freundes und preßte ihren Blondkopf an sein Fell. Cäsars treue, mitleidige Augen übten von jeher eine beruhigende Wirkung auf die zornige Ursel aus.
Auch heute hatte Cäsar denselben beruhigenden Einfluß auf die große Ursel, wie früher auf die kleine. Das junge Mädchen kam zur Besinnung.
»So schlecht sind sie zu mir, die Eltern«, klagte sie dem guten Kameraden.
Der schaute sie mißbilligend an. Er schien nicht ihrer Meinung zu sein.
»Na ja«, bekräftigte Ursel vor sich hin, »es sollen ihnen doch gar keine Kosten daraus erwachsen.«
Cäsar schüttelte Kopf und Schweif.
»Bist du etwa auf Seiten der andern?« Sie klopfte ihm zärtlich das Fell. Und dabei fiel ihr ein, wie die Mutter vorhin ihr Haar mindestens so zärtlich gestreichelt hatte, wie sie ihr gesagt hatte, daß die Eltern stets nur ihr Bestes im Auge hätten.
»Dann wissen sie eben nicht, was mein Bestes ist«, antwortete sie der unbequemen Stimme, die sich in ihr meldete.
Sie kam den ganzen Vormittag nicht zum Vorschein, sondern vergrub sich mit Cäsar in ihren Schmerz. Aus dieser nützlichen Tätigkeit stöberte sie Trude auf, welche die Weisung erhalten hatte, sie zu Tisch zu rufen. »Sagen Sie, ich hätte keinen Hunger, Trude.«
»Aber Fräulein Urselchen, seien Sie doch nich so. Sehen Sie, was die Frau Mama is, die is ja woll manchmal 'n bißchen hitzig und ranzt einen auch woll an. Se meint's trotzdem herzensjut. Und wenn Se auch Ausschimpfe jekriegt haben, deshalb können Se ruhig zu Tische kommen. Es jibt Kalbsleber.«
Ob nun das gutmütige Zureden des Mädchens Erfolg bei Ursel hatte oder die Kalbsleber, die sie besonders gern aß, soll dahingestellt bleiben. Jedenfalls geruhte sie, die verräterischen Tränenspuren im Gesicht mit kaltem Wasser zu tilgen und bei Tisch zu erscheinen.
Augustes Kalbsleber mundete herrlich, denn Ursel hatte sich rechtschaffen Hunger geweint. Freilich, daß der Vater offenkundig über sie hinwegsah und von ihrem Dasein absolut keine Notiz nahm, war etwas störend. Auch daß Hans das Gespräch immer wieder auf die englischen Suffragetten brachte, die durch eigenes Aushungern etwas bei ihren Gegnern zu erreichen suchten, war niederträchtig.
»Was mache ich nur mit dem Mädel, Rudi?« fragte Frau Annemarie ihren Mann nach Tisch, als Ursel mit dem letzten Happen und einer etwas undeutlichen »Gesegnete Mahlzeit« sofort wieder auf ihr Zimmer verschwunden war. Es war das gemeinsame Nachmittagsstündchen des Professors und seiner Frau, in dem stets alle wichtigen Dinge besprochen wurden.
»Laß sie halt ausbocken«, riet der Professor mit Gemütsruhe.
»Ausbocken ist keine Beschäftigung«, wandte Annemarie ein. »Ich kann sie doch nicht den ganzen Tag da oben sitzenlassen. Wenn man nichts tut, kommt man nur auf dumme Gedanken.«
»So laß dir im Hause von ihr helfen, Herzle. Es schadet dem verwöhnten Mädchen gar nichts, wenn es halt mal etwas in der Hauswirtschaft herangenommen wird.« Er rauchte in aller Gemütsruhe seine Nachmittagszigarre.
»Ja, Rudi, es fragt sich doch jetzt vor allem, was soll denn nun mit der Ursel werden? Das Mädel ist doch durch die Banktätigkeit an regelmäßige Arbeit gewöhnt. Irgendeinen Beruf muß sie doch schließlich haben.«
Der Professor stieß dickere Dampfwolken in die Luft. »Hm - und du meinst halt, Fraule, zur Bank geht sie nimmer zurück?«
»Ganz ausgeschlossen, Rudi. Nicht im Guten und nicht im Bösen. Da kenne ich deine Tochter.«
»Ja, dann werd' ich mich doch mit dem Bankdirektor in Verbindung setzen und die Ursel bei ihm entschuldigen müssen. Also ein mißglückter Versuch. In einem anderen kaufmännischen Beruf wird sie's halt genauso machen.«
»Glaub' ich auch, Rudi. Ich habe mir den ganzen Vormittag schon den Kopf zerbrochen, wie wir die Angelegenheit glücklich lösen. Sie will jetzt natürlich durchaus Musik studieren, auf irgendein Konservatorium.«
»Kommt ihr mir schon wieder mit Opernideen?« Der Professor schien recht ungehalten. Die Dampfwolken seiner Zigarre verdichteten sich zu einer grauen Wolkenwand. »Vorläufig können wir sie halt mal erst für ein paar Wochen an die Waterkant nach Lüttgenheide schicken.« Dort war immer das
Weitere Kostenlose Bücher