Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
fand, daß Anita sich nicht ladylike benommen habe. Das hatte diese aber unbeeinflußt gelassen. Mariettas Mitteilung, daß die Großmama sie fortschicken wolle in ein fremdes Pensionat, machte um so mehr Eindruck. Ihr Stolz, der Stolz der Tavares, bäumte sich dagegen auf, forgeschickt zu werden.
»Aus einem deutschen Pensionat laufe ich davon, Jetta«, teilte sie der Schwester auf portugiesisch mit. »Dann gehen wir in eine Boarding-school nach Rio de Janeiro.« Aber bei all ihrer Selbständigkeit kam es Anita doch wohl zum Bewußtsein, daß eine solche Überseereise sich nicht so ganz einfach bewerkstelligen lassen würde.
Die brasilianischen Kusinen
Bei Gerda Ebert hatte die Ankunft der brasilianischen Kusinen große Aufregung verursacht. Das stille, ruhige Mädel war wie ausgetauscht. Der Mund stand keinen Augenblick still. Bald wollte sie von der Mutter wissen, wie sie aussähen, bald, ob sie im Rechnen und Französisch wohl schon weiter wären als sie. Ob sie größer seien, ob sie Deutsch verstünden, oder ob man mit ihnen »brasilianisch« reden müsse. »Mädel, du bist doch das reine Fragezeichen heute«, lachte sie die Mutter aus. »Es ist nur gut, daß morgen schon Sonntag ist, da wird ja deine Neugierde befriedigt werden.« Dabei wünschte Frau Vronli den Sonntag genauso herbei wie ihr Töchterchen. Sie konnte die Zeit nicht erwarten, wo sie die Kinder ihrer Schwester Ursel zum ersten Mal in die Arme schließen sollte.
Gerda hatte noch sehr viel bis dahin zu tun. Die saß über ihren Schulatlas gebeugt und lernte, daß ihr der Kopf rauchte, Geographie von Brasilien. Denn vor den älteren Kusinen mochte sie sich nicht blamieren.
Und nun war endlich der ersehnte Sonntag da, mit strahlendblauem Himmel. Draußen in Lichterfelde war man weniger erwartungsvoll. Anita und Marietta legten dem Besuch der neuen Verwandten keinen besonderen Wert bei. Sie hatten ja in Brasilien Onkel und Tanten genug. Die europäischen würden auch nicht anders sein. Und daß man Kaffeebesuch erwartete, daß Frau Trudchen einen großen Kuchen gebacken hatte, wie Lottchen strahlend erzählte, machte noch weniger Eindruck auf sie. Nein, das konnte den beiden nicht imponieren.
Und doch, hier war es anders. Ganz anders. Schon am Vormittag unterhielten sich der Großpapa und die Großmama angeregt darüber, ob das Wetter wohl beständig sei, ob man es wagen könnte, den Kaffeetisch heute im Garten unter der großen Linde zu decken. Dann schleppte der Großpapa eigenhändig mit Kunze Tische herbei, die zu einer langen Tafel zusammengestellt wurden. Anita rümpfte das Näschen. Das war Bedientenarbeit - warum ließ der Großpapa nicht Homer das machen?
Noch mehr mußte sie sich am Nachmittag wundern. Die Großmama zog sich nicht, wie sonst, gleich nach Tisch zum Ruhestündchen in das Biedermeierzimmer zurück. Sie ging an ihren Wäscheschrank und holte eine lustigbunte Kaffeedecke für die lieben Kinderchen heraus. Die breitete sie eigenhändig über die Gartentafel. Mit großen Augen schauten die beiden Enkelinnen zu. Deckte Frau Trudchen nicht den Kaffeetisch?
»Ist Arbeit für Homer. Soll kommen, tun es«, meinte Anita.
»Homer hilft Frau Trudchen das Mittagsgeschirr beiseite bringen. Fünfzehn Personen zum Kaffee und Abendbrot, das ist keine Kleinigkeit, Kind. Da muß ein jeder mit Hand anlegen. Die Gute weiß ja sonst gar nicht, daß Sonntag ist.«
Anita sah die alte Dame groß an. In Brasilien hatte man nie daran gedacht, irgend etwas selbst zu tun, damit die Dienerschaft auch wisse, daß Sonntag sei. Das war ihr ganz neu. »Donna Trudchen ist dafür arbeiten«
»Und du zum Faulenzen, was, Anita? Glaubst du wirklich, daß der liebe Gott die einen Menschen zum Arbeiten und die andern zum Nichtstun erschaffen hat? Jeder Mensch hat den Platz auszufüllen, der ihm im Leben angewiesen ist.« Dabei trug die alte Frau Stuhl um Stuhl herbei.
Marietta nahm sie ihr ab. Sie schämte sich vor der Großmama ihres Nichtstuns und vor Anita der untergeordneten Arbeit wegen. Es war ein Zwiespalt in der Seele des jungen Mädchens, wie schon öfters hier in Europa. Erst als der letzte Stuhl an der Tafel stand, zog sich die Großmama zurück. »Marietta, nun kannst du dem Prinzeßchen sagen, daß einem kein Stein aus seiner Krone fällt, wenn man auch die Hände regt. Jetzt überlasse ich euch noch den Blumenschmuck.« Die Großmama nickte den beiden freundlich zu. »Was meinst du, Nita, soll ich Flieder in die Vasen füllen oder
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