Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
der kräftigen Anita kaum bis zur Schulter. Unter dem goldbraunen Kraushaar sah ein schmales, zartes Gesichtchen mit großen, schwarzen Augen in die Welt. Anitas Augen dagegen waren strahlend, kühn, beherrschend, der Spiegel ihrer rasch wechselnden Empfindungen. Im Kreis der Altersgenossinnen war Anita Tavares tonangebend. Das lag freilich nicht nur in ihrer Wesensart begründet - ihr Vater, Milton Tavares, war der Kaffeekönig von Brasilien, der reichste und angesehenste Mann in Sao Paulo und weit darüber hinaus. Das Fräulein Tochter war sich dessen durchaus bewußt, und die Erkenntnis kam in allem, was Anita dachte und tat, zum Ausdruck. Die weichere, sanftere Zwillingsschwester wurde vollkommen von ihr beherrscht. Und doch - oft, wenn kein anderer, nicht einmal die Mutter, Einfluß auf Anitas ungezügelte Heftigkeit oder auf ihren Eigensinn hatte, vermochte Marietta sie durch ein bittendes Wort umzustimmen. Denn die beiden Schwestern liebten sich innig. Sie waren unzertrennlich. Marietta sah voller Bewunderung zu der blühenden, temperamentvollen Anita, die jeden gleich für sich einzunehmen wußte, auf. Und diese hing mit der ganzen Stärke ihres heißblütigen Temperaments an der um vier Stunden Jüngeren. Sie fühlte sich für Marietta verantwortlich, sie bemutterte sie und sorgte dafür, daß diese in ihrer Bescheidenheit den Platz unter den Schulkameradinnen einnahm, der ihr, als einer Tavares, zukam.
Arm in Arm traten die beiden Schwestern aus dem Schulgebäude auf die sonnenblendende Straße hinaus.
»Flink, komm, Jetta - Elvira, mach zu, rasch, eilt euch, daß Antonia sich nicht wieder wie ein Schatten an unsere Fersen heftet«, raunte Anita halblaut der Schwester und der Freundin zu, sie eiligst vorwärts ziehend.
»Antonia ist bereits hinter uns«, flüsterte Elvira, zurückspähend. »Sie will gewiß wieder mit uns im Auto zusammen nach Hause fahren.«
»Warum wollen wir sie denn nicht mitnehmen? Es ist doch noch ein Platz im Auto«, wandte Marietta ein.
»Sie ist Halbblut, ihre Großmutter war eine Mulattin. Die Tavares zeigen sich nicht mit ihr zusammen öffentlich im Auto.« Anitas ganzer Hochmut kam in diesen wenigen Worten zum Ausdruck.
»Ich finde Antonia netter und gefälliger als die meisten Mädchen. Sie kann doch nichts dafür, daß ihre Großmutter Mulattin war. Ebensowenig, wie wir etwas dafür können, daß wir aus dem Hause Tavares stammen«, gab Marietta, unzufrieden mit dem Verhalten der Schwester, zu bedenken.
»Nein - man kann nichts dafür, aber es ist doch nun mal so. An der Tatsache ist nichts zu ändern«, lachte Anita sie aus. »Ah, da ist ja Homer« - sie warf dem über das ganze Gesicht grinsenden kleinen Neger ihre Büchertasche mit der Geste einer großen Dame zu. »Guten Tag, Homer.« Der Junge nahm auch Mariettas Mappe in Empfang. »Wo ist denn Chico?«
»Großvater Chico ist krank. Homer darf fahren Donna Anita und Donna Marietta im schönen Auto allein nach Haus.« Er zog vor Vergnügen den Mund von einem Ohr zum anderen.
»Wirst du auch vernünftig fahren, Homer?« erkundigte sich Marietta, ein wenig unbehaglich Platz nehmend.
»Homer fährt gut. Homer fährt sicher wie Großvater Chico. Braucht Donna Marietta nicht zu ängstigen«, beruhigte sie der kleine, schwarze Chauffeur. »Sonst fahre ich selbst.« Anita fuhr selbst tadellos.
»O Donna Anita!« Bittend hingen die schwarzen Augen des Jungen an dem schönen Mädchen. Man sah es ihm an, wie brennend gern er selbst das Auto führen wollte. »Nun gut - schon gut. Mach nur zu!« gab Anita, sich in die roten Lederpolster schmiegend, ungeduldig zur Antwort. Denn dicht neben dem Auto tauchte Antonias Gesicht auf. Anita vermied es, nach jener Seite zu sehen. Sie unterhielt sich angeregt mit ihrer Freundin Elvira, bis der Motor anlief und das Signal zur Abfahrt ertönte.
Rrrrr - da flog es die weißstaubige Straße entlang - rrrrr - vorüber an der langen Autokette, aus denen man den Dahinsausenden Grüße zuwinkte.
»Was machst du denn für ein betrübtes Gesicht, Marietta?« Die Schweigsamkeit der Schwester fiel Anita, die munter drauflosplauderte, schließlich auf. »Es ist recht luftig im Fahren, findest du nicht auch, Jetta?«
»O ja, Nita, aber das Laufen muß entsetzlich beschwerlich sein. Die arme Antonia - ich kann den Gedanken an sie nicht loswerden. Sie hat uns so traurig nachgesehen«, meinte Marietta mitleidig.
»Du hast immer unbequeme Gedanken und verdirbst einem die Laune dadurch«, ereiferte
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