Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
fand sein lautes Lachen unfein.
»Und du, Marietta?« fragte er diese.
»Oh, ich finde Europa gut, sehr gut. Ich liebe deutsche Land und kleines Haus und liebe Großeltern«, sagte Marietta warm. Dabei kam es ihr zum Bewußtsein, daß sie schon wieder mit ihrer Ansicht im Gegensatz zu Anita stand. Aber sie hatte nicht Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen. Denn Tante Vronli hatte sie noch einmal an ihr Herz gezogen. »Mein Kind, meine Liebes - du gleichst doch meiner Ursel!« sagte sie leise. Und dann fuhr sie in ihrem gewöhnlichen Ton fort, denn derartige Regungen pflegte die tatkräftige Frau nicht oft zu zeigen: »Ich war schon so gespannt auf euch, Kinder. Ich wäre gern schon in der Woche mal herausgekommen. Aber ich hatte gerade besonders viel zu tun. Wir haben eine neue Küche zur Speisung von notleidenden Kindern eingerichtet.« »Notleidende Kinder - oh, ist das traurig!« sagte Marietta nachdenklich. »Um so schöner ist es, Marietta, wenn man helfen kann, wenn man sieht, wie es den Kleinen schmeckt. Wenn man die frohen Augen sieht, die Dankbarkeit bei all den Kindern. Wenn die schmalen Bäckchen sich runden und röten - ich werde euch mal in meine Kinderküche mitnehmen, es wird euch Freude machen«, sagte die Tante. Marietta stimmte eifrig zu, während Anita den Kopf schüttelte: »Macht keine Freude, zu sehen arme Kinder, das hungert. Muß man geben Geld, zu kaufen Essen. Aber nicht sehen.« Die junge Amerikanerin strich an ihrem Seidenkleide entlang, als könne es jetzt schon in Berührung mit zerlumpten Kleidern kommen.
»Das ist bequem, Anita, Geld zu geben und sich sonst nicht um die Armen zu kümmern«, sagte jetzt Onkel Georg ernst. »Wahre Wohltätigkeit bekommt erst ihren Wert durch die Art, wie man gibt. Mit Geld kann man viel Gutes schaffen, gewiß, aber das Eigentliche, das Wahre, kann nur ein gütiger Mensch seinem Mitmenschen geben.« Anita schaute den Onkel groß an, der da so ernsthafte Worte eindringlich sprach. Es schien zweifelhaft, ob sie seine Worte und deren Inhalt überhaupt verstanden hatte. Da sagte Marietta: »Es ist schön zu haben viel Geld und zu bauen davon Küchen für alle kleinen Kinders, was hungert. Ich will gehen mit Tante Vronli und ansehen die Küchen und lernen, wie man macht sie. Und dann will ich überall, wo sind arme kleine Kinders in Hunger, machen eine neue Küche und einladen arme Kinders mit Schokolade und Kuchen und Bananen.«
»Brav, Marietta, das ist ein guter Vorsatz für dein zukünftiges Leben.« Freundlich strich Tante Vronlis kräftige Hand über das goldbraune Haar der jungen Nichte. »Ihr besucht mich in der nächsten Woche, und dann nehme ich euch und Gerda mit zur Kinderspeisung.«
»Aber wir wohnen weit, sehr weit«, fügte Gerda hinzu. »Fennstraße, am Weddingplatz, das ist über eine Stunde Weg.«
»Eine Stunde Weg ist nicht weit - ist sehr nah«, sagte Anita, die an amerikanische Entfernungen gewöhnt war. »Kann man nehmen Auto oder reiten.«
»Auto fahren - reiten?« Gerda schaute die Kusine an, als ob sie ein Wundertier vor sich sähe. Eines erschien ihr so undenkbar wie das andere. Das an größte Sparsamkeit gewöhnte Kind war sehr wenig in seinem Leben Auto gefahren, und reiten - »hahaha« - Gerda lachte plötzlich hellauf. »Anita will zu uns nach dem Weddingplatz reiten - hahaha«, sie konnte sich gar nicht beruhigen.
»Was gibt es da zu lachen?« fragte Anita stirnrunzelnd. Aber als sie sah, daß auch der Onkel und die Tante lachten, fügte sie bekräftigend hinzu: »Ich werde kommen angereitet bestimmt. Man kann reiten in Weddingplatz ebenso wie in Sao Paulo.« »Du würdest in unserer Gegend Aufsehen erregen«, erklärte ihr der Onkel, immer noch mit dem Lachen kämpfend.
»Reitet ihr denn überhaupt hier in Deutschland?« verwunderte sich Tante Vronli. »Wir werden reiten. Großpapa muß erlauben es. Wir haben telegrafiert nach Sao Paulo an Eltern«, sagte Anita mit Bestimmtheit und warf die schwarzen Locken in den Nacken. »Ei«, dachte die erfahrene Frau, »so ganz einfach scheint ja das Zusammenleben mit exotischen jungen Damen nicht zu sein. Ob die alten Eltern, die an ihr stilles, beschauliches Leben gewöhnt sind, dem überhaupt gewachsen sind?« Inzwischen hatte sich Gerda an Marietta gewandt. »Warum hast du vorhin geweint?« fragte sie. »Hattest du Heimweh?«
»Heimweh?« Die junge Brasilianerin wußte augenscheinlich mit diesem Wort nichts anzufangen. »Weh heim?« fragte sie Anita.
»Amerikanerinnen haben
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