Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
die Werke der großen deutschen Dichter. Sie besuchte die Museen und Kunststätten mit ihnen. Ja, sie brachte es zuwege, daß Anita weiter in die Schule ging und sich allmählich der Disziplin fügen lernte, wenn sie sich auch oft genug noch dagegen aufzulehnen versuchte.
Der erste Juli hatte verschiedene Veränderungen im Gefolge. Die Miß war in ihre Heimat zurückgekehrt. Zur allgemeinen Freude. Selbst Marietta bedauerte nicht ihr Scheiden. Noch einer hatte seinen Abschied nehmen müssen: Jimmy wurde dem Zoologischen Garten übergeben. Eines Tages hatte die entsetzte Großmama die von zwei Generationen herstammende Glasvitrine in ihrem Biedermeierzimmer zertrümmert und die gehüteten Goldtäßchen in Scherben vorgefunden. Er selbst, der braunhaarige Missetäter, aber lag warm zugedeckt auf Großmamas grünem Ripssofa. Da war sein Schicksal besiegelt. Alle Bitten Anitas fruchteten diesmal nichts. Jimmy wanderte in den Zoo.
Auch Lottchen war auf einige Zeit davongezogen. Der Geheimrat hatte das blasse Kind zum Landaufenthalt in eine Ferienkolonie geschickt.
Die Sommerferien standen vor der Tür. Wie alljährlich wollten Geheimrats nach Kissingen zur Kur gehen. Diesmal sollten die Enkelinnen sie begleiten. Wie freute sich Marietta, den Bayrischen Wald kennenzulernen, während Anita das elegante Badeleben bei weitem mehr lockte. Zur Nachkur pflegte die Großmama dann an die Waterkant nach Lüttgenheide zu fahren, dem Gut ihres Bruders Klaus. Dem einzigen, den sie jetzt noch besaß. Ihr älterer Bruder Hans, der Amtsgerichtsrat, war bald nach dem Tode ihrer Mutter ebenfalls dahingegangen. So bröckelte die Familie nach und nach ab. Um so fester mußten sich die noch Bleibenden zusammenschließen. Die Koffer waren gepackt. Die Großmama hatte die Morgenstunde, in der die Kinder ihren Frühritt mit dem Onkel Hans unternahmen, dazu benutzt, um ganz ungestört ihre Reisevorbereitungen zu treffen. Natürlich hatte Anita es durchgesetzt, reiten zu dürfen.
Der Morgenritt wurde heute etwas länger ausgedehnt als gewöhnlich, denn der Onkel hielt darauf, daß die beiden Mädel die Schulstunde nicht versäumten. Heute war der erste Ferientag, der mußte ausgenützt werden. Um so erstaunter waren sie, die Großelten bei ihrer Heimkunft nicht wie sonst auf der Terrasse beim Frühstück anzutreffen. War Großpapa schon in der Praxis?
Laut und geräuschvoll, wie das ihre Art war, klingelte Anita nach dem Frühstück. Frau Trudchen erschien mit verstörtem Gesicht.
»Schscht, Fräuleinchen, man bloß nicht so laut! Was unser Jroßpapachen is ...« die Stimme brach der Treuen. Vergeblich versuchte sie die Tränen mit der Schürze zu dämmen. »Was ist geschehen?«
»Was unser Jeheimrat is ...« Frau Trudchen konnte nicht weitersprechen. »Hat der Großpapa gesterbt?« hörte Marietta die Schwester fragen.
Sie mußte sich an den Treppenpfosten klammern. Es wogte ihr vor den Augen. Wie durch einen Schleier sah sie Frau Trudchen den Kopf schütteln.
»Noch lebt er - aber ob er's übersteht - einen dollen Herzkrampf hat er janz plötzlich jekriegt - ach, und unsere arme Frau Jeheimrat, was fängt die bloß ohne ihren Mann an!« »Er lebt ja, warum weinen heute schon?« Anitas sorglosem Temperament waren Tränen, Krankheit und Aufregung recht zuwider. Dabei hatte sie ein noch nie empfundenes Gefühl der Beklemmung, des Schmerzes - sie empfand plötzlich, daß sie ihn liebhatte, den alten Herrn, der öfters mal ein wenig polterte und es doch so gut mit ihnen meinte. Aber mit der resoluten Art der Amerikanerin wollte sie dieses Gefühl nicht aufkommen lassen. »Komm, Jetta, wir wollen nehmen das Frühstück. Bringen Sie das Kakao, Donna Trudchen.«
»Ich kann nicht essen, Nita. Ich will zur Großmama gehen.« Mariettas Stimme klang tonlos. Sie wandte sich dem Schlafzimmer der Großeltern zu. Aber Frau Trudchen vertrat ihr den Weg.
»Frau Jeheimrat will nicht gestört werden, der Doktor is drin. Ach Jotte doch, wer hätte das jedacht.«
Da ging eine Tür. Gedämpfte Stimmen - die Großmama gab dem Arzt das Geleit.
»Er hat ja eine Kernnatur, die überwindet die Attacke. Kopf hoch, Frau Hartenstein, und Ruhe - Ruhe.. .wir werden es schon zwingen.«
»Das gebe der Himmel!« War das die helle Stimme der Großmama, die da so mutlos klang?
Frau Annemarie stand und schaute dem davoneilenden Arzt mit leerem Blick nach. Sie griff sich an die Stirn, als könne sie es nicht fassen, was die letzte Stunde Furchtbares gebracht hatte.
Da
Weitere Kostenlose Bücher