Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
fühlte sie eine kleine, kalte Hand in der ihren, eine tränenfeuchte Wange sich zärtlich gegen ihr Gesicht schmiegen. »Der liebe Großpapa wird werden gesund!« Voll felsenfester Zuversicht klang es.
»Mein Herzenskind - das gebe Gott!« Fest klammerte sich die Verzagte an die junge Enkelin, als müsse die Hoffnungsfreudigkeit der Jugend auf sie überströmen. Dann löste sie sich jäh aus Mariettas Arm.
»Ich muß hinein, Kind, zu ihm - wer weiß, wie lange ich ihn noch habe ...« Das war mehr zu sich selbst als zu der Enkelin gesagt.
»Nimm mich mit, ich will bei der lieben Großmama bleiben. Ich will helfen gesund pflegen den Großpapa.« Mehr noch als Mariettas Mund baten ihre schwarzen Augen. Aber die Großmama schüttelte den Kopf. »Du meinst es gut, Seelchen, aber es geht nicht. Der Großpapa braucht Ruhe.« Damit schlich sie behutsam in das Krankenzimmer zurück. Marietta ließ sich in einen Korbsessel auf der Diele sinken. Sie heftete ihre Augen auf die geschlossene Schlafstubentür.
Portugiesische Laute entrissen sie dieser Vorstellung. Anita sprach hell und ungedämpft. »Willst du hier sitzen und warten, Jetta, bis der Großpapa gesund wird? Krankheit ist traurig und langweilig. Komm, wir wollen überlegen, was wir unternehmen können. Wollen wir voranfahren nach Kissingen?« Der amerikanische Unternehmungsgeist meldete sich.
Marietta starrte die Schwester an, als spräche sie eine ihr fremde Sprache. »Fort willst du jetzt, Nita, wo wir in banger Sorge um den Großpapa sind? Da kannst du an eine Vergnügungsreise denken?« Nie hatte Marietta bisher so vorwurfsvoll zu der Schwester gesprochen.
Dieser Ton ärgerte Anita. »Wenn du hier sitzt und traurig bist, davon wird der Großpapa auch nicht eher gesund.«
»Wenn herzlos und amerikanisch dasselbe ist, verzichte ich darauf, Amerikanerin zu sein.« Es klang in der Erregung schärfer, als Marietta sonst zu sprechen pflegte.
»Du bist heute ungenießbar, Jetta. Ich werde mir andere Gesellschaft suchen. Schade, daß Jimmy fort ist. Das beste ist, ich nehme mir ein Taxi und fahre zum Onkel Juan nach Zehlendorf. Da ist es lustiger als hier. Kommst du mit?« Marietta schüttelte stumm den Kopf.
So saß Marietta an diesem hellen Sonnentag allein in der dämmerigen Diele - stundenlang, allein mit ihren Gedanken, ihrem Hoffen, ihren Gebeten jenseits der trennenden Tür zum Krankenzimmer. Sobald sich diese öffnete und die Großmama sichtbar wurde, die Umschläge zu erneuern oder irgend etwas für den Kranken zu holen, war sie neben ihr, um ihr jeden Schritt abzunehmen.
»Er ist ruhiger geworden - er schläft. Er scheint keine Schmerzen zu haben.« Marietta las der Großmama die Worte von den Lippen. »Wenn nur nicht wieder so ein Anfall wie heute morgen einsetzt. Ich kann es nicht ertragen, ihn so leiden zu sehen.« Die leuchtendblauen Augen der alten Frau trübte ein Tränenschleier. Gleich darauf aber dachte sie an die junge Enkelin. »Du hättest mit Anita mitgehen sollen, mein Herz.« »Ich gehöre zu euch«, erwiderte Marietta schlicht.
»Ja, du gehörst zu uns - so komm, mein Seelchen.« Die Großmama zog Marietta mit sich an das Krankenlager des Großpapas. Und nun saßen sie beide Hand in Hand, die Großmama und die ihr noch vor kurzem fremde Enkelin.
Ernste Stunden gingen an den beiden vorüber. Gab es noch eben einen zagen Hoffnungsschimmer, so wich er im nächsten Augenblick schon wieder vor dem verfallenen Aussehen des Schwerkranken, vor seinen ruhelos auf der Decke tastenden Händen.
Hans Hartenstein kam, um zu hören, wie es mit dem Vater stände. Gegen Abend erschien Tante Vronli. Ihre Ruhe, ihr stilles Wesen tat der Mutter wohl. Sie wollte eines der Mädel mit sich nehmen. Aber Anita hatte man in Zehlendorf nicht wieder fortgelassen. Auch Frau Annemarie meinte: »Laß mir das Kind da, Vronli, es ist mir ein Halt und ein Trost.« Diese Worte erfüllten Marietta mit freudiger Genugtuung. Vronlis Anerbieten, die Nacht bei dem Vater zu wachen, damit die Mutter sich niederlegen könne, wies Frau Annemarie zurück. Sie rührte sich nicht fort von dem Krankenlager ihres Mannes.
»Sorge für die Großmama, Marietta«, hatte Tante Vronli beim Abschied gesagt, »daß sie uns gesund bleibt.«
Es hätte erst nicht dieser Aufforderung bedurft. Marietta umgab die Großmama mit einer rührenden Zartheit und Fürsorge.
Was war das für eine Nacht. So heiß, so gewitterschwül und bedrückend. Da - ein Windstoß, Blätterrauschen, Blitz und
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