Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
Taxi genommen. Sie war nicht gewöhnt, zu Fuß in die Schule zu gehen und hatte nicht die Absicht, daran in Deutschland etwas zu ändern. Miß Smith war durchaus einverstanden, obwohl die Entfernung mit dem Auto nur wenige Minuten betrug. Ja, als Anita beim Aussteigen mit der Sicherheit, die ihrem Wesen den Stempel aufdrückte, sagte: »Miß Smith, Sie können fahren zurück«, war das durchaus nach ihrem Geschmack. Weder Anita noch Marietta dachten daran, das Auto zu bezahlen. Sie waren ja gewöhnt, stets ihr Privatauto zur Verfügung zu haben. Miß Smith würde das schon in Ordnung bringen.
Die Miß aber hatte zufällig kein Geld bei sich. Und die alte Frau Hartenstein machte große Augen, als vor ihrer Gartenpforte ein Auto hielt, dem die Miß entstieg. Aber als sie das Auto, das ihre Enkelinnen sich großspurig genommen hatten, dann auch noch bezahlen sollte, hielt sie mit ihrer Meinung nicht zurück. Auch im Mädchenlyzeum hatte das Vorfahren des Autos Aufsehen erregt. Die Kinder, die durch das große Tor in die Schule wanderten, blieben erstaunt stehen, drehten die Köpfe und reckten die Hälse. Auch in der zweiten Klasse erregte das Erscheinen der Brasilianerinnen große Aufregung. Man staunte die fremdländische Schönheit der beiden Schwestern an, man tuschelte, ja, man kicherte auch hier und dort, und machte seine Glossen über den eleganten Aufzug der beiden. Marietta hätte sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Anita aber erwiderte die Blicke kühl und von oben herab. Die Schwester, die sich auf eine der hintersten Bänke setzen wollte, mit sich nach vorn ziehend, sagte sie in bestimmtem Tone: »Wir gehören in die erste Reihe.« Da diese Worte in portugiesischer Sprache gesprochen waren, schienen sie eine Mauer um die beiden Neuen zu türmen. Sie waren Fremde, die nicht zu den übrigen Schülerinnen gehörten. Mariettas Feingefühl empfand dieses Ausgeschlossensein, während Anita unbekümmert Klasse und Insassen musterte. Die Klasse war schmucklos und unschön. Gelbgrau getünchte Wände, deren Einförmigkeit nur durch die große Landkarte und die schwarze Tafel unterbrochen wurde. In dem französischen College von Sao Paulo waren die Wände bunt bemalt, Bilder hatten sie geschmückt. Statt der häßlichen, braunen Holzbänke hatte man dort bequeme, kleine Rohrsessel. Und die Schülerinnen, fast alle aus reichem Hause, wetteiferten mit farbenprächtigen Kleidern. O Gott, wie geschmacklos kleideten sich hier die Mädchen. Die meisten waren in dunklen Röcken und hellen Waschblusen, ab und zu eine in einem netteren Sommerkleid. Und die Mädchen selber! Nein, wie spießbürgerlich sahen sie aus.
Da traten zwei der Mädchen zu den Schwestern heran. »Ach bitte, das sind unsere Plätze«, sagte die eine in bescheidenem Tone.
Marietta erhob sich sofort, während Anita tat, als ob sie taub sei. Die Schülerin, in dem Glauben, daß sie vielleicht die deutsche Sprache nicht verstünde, versuchte Anita zur Seite zu schieben: »Mein Platz ist das ...«
»Hier sitze ich«, sagte die Fremde höchst energisch. Wer zuerst da war, dem kam der Platz zu - das war amerikanische Anschauung.
»Wir können sitzen auf anderem Platz«, redete Marietta der Schwester zu. In diesem Augenblick erschien die Lehrerin.
»Ja, was hat denn das zu bedeuten, was ist denn hier los?« wunderte sich die Lehrerin. »Aha - die beiden Neuen. Wie war doch der Name?« Anita und Marietta nannten ihre Namen.
»Schön, Anita, du kannst dich in die dritte Bank setzen und Marietta dort drüben in die nächste.« Die Lehrerin hielt es für ersprießlich, die Schwestern zu trennen und neben deutsche Schülerinnen zu setzen.
Aber Anita war gewöhnt, ihrem Willen zu folgen. »Ich bleibe sitzen hier, und Marietta wird sitzen bei mir. Wir sind Zwillings«, sagte sie laut.
Die Klasse saß starr. Auch Fräulein Dr. Langheinrich war so etwas in ihrer langjährigen Praxis noch nicht vorgekommen. Sie fuhr sich nervös durch ihr graues Haar. »Anita, es ist bei uns Sitte, daß den Anordnungen des Lehrers unbedingt Folge geleistet wird. Hast du mich verstanden?«
Anita schüttelte den Kopf. »Ich bin Amerikanerin.« Das klang so stolz, als sei sie die Kaiserin von China.
»Hier bist du nichts weiter als eine Schülerin des Lyzeums.« Nein, solch ein Exemplar war Fräulein Langheinrich doch noch nicht in die Finger gekommen. Ein Tadel war das mindeste für solch ungebührliches Benehmen. Aber ob er auf die Ausländerin irgendeinen Eindruck
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