Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel

Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel

Titel: Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
Vom Netzwerk:
machen würde, schien fraglich. Auch mochte man einer Neuen nicht gleich am ersten Tag einen Tadel schreiben. Wirklich ein schwieriger Fall.
    Die Lehrerin mochte wohl ein ziemlich hilfloses Gesicht gemacht haben, denn plötzlich erwachte in Anita ein gewisses Mitleid mit der kleinen, schon ziemlich betagten Dame. Und da sie sich von jeder Gefühlsregung hinreißen ließ, sagte sie großmütig: »Nun gut, ich werde gehen in das dritte Bank.«
    Marietta hatte bereits den ihr von der Lehrerin zugewiesenen Platz eingenommen.
    Die Literaturstunde begann. Man sprach den Wallenstein durch. Das nächste Aufsatzthema sollte daraus entnommen werden.
    »Wann spielt der Wallenstein, Marietta Tavares?« wandte sich Fräulein Langheinrich jetzt an die junge Ausländerin, um festzustellen, wieviel man bei den Neuen voraussetzen durfte.
    Marietta schwieg. Ihr zartes Gesicht wurde bald blaß, bald rot vor innerer Erregung.
    »Steh auf, wenn ich mit dir spreche«, verlangte Fräulein Langheinrich.
    Marietta erhob sich sofort. In Sao Paulo war man beim Beantworten der Fragen sitzengeblieben.
    »Hast du meine Frage verstanden? Nun also, wann spielt er?«
    Marietta nahm all ihren Mut zusammen. »Wir haben gehört schon von Dichter Schiller. Aber nicht in Schule. Schule in Sao Paulo ist französisch. Unsere Mammi uns hat erzählt. Und hier bei der Großmama ich habe gelesen Gedichte von Herrn Schiller.« Unterdrücktes Lachen ließ sich vernehmen. Die übermütigen Mädel lachten über »Herrn Schiller«.
    »Eure Großmutter wohnt hier in Berlin? Ist sie eine Deutsche?« erkundigte sich die Lehrerin.
    »Ja, Großeltern sind Deutsche. Und unsere Mammi ist auch deutsch.« Merkwürdig, daß hier Marietta die Sprecherin war, während sie das sonst stets Anita überließ. »Sie ist gegangen auch zu dies Schule, viele Jahre vorher.«
    »Eure Mutter hat unsere Schule besucht? Nun mußt du mir auch ihren Namen verraten, mein Kind. Ich unterrichte schon siebenundzwanzig Jahre hier an unserem Lyzeum. Da werde ich sie kennen. Wie war der Mädchenname eurer Mutter?« »Ursel Hartenstein.«
    »Was - die Ursel Hartenstein? Freilich kenne ich die!« Etwas Goldlockiges, Elfenartiges mit übermütigen Strahlenaugen tauchte vor dem inneren Blicke der Lehrerin auf. Die kecke Ursel, die hatte ihnen genug zu schaffen gemacht, um dann stets wieder durch ihren Liebreiz zu versöhnen. Und da saßen nun nach Jahren ihre beiden Töchter auf denselben Bänken vor ihr - exotische fremdartige Blüten.
    Die Klasse merkte, daß die Lehrerin mit ihren Gedanken woanders war, sie wurde unruhig. Fräulein Langheinrich wandte sich noch einmal an die Tavaresschen Schwestern. »Laßt euch von eurer Großmutter den Wallenstein geben und holt das Fehlende nach. Wenn euch etwas unklar bleibt, könnt ihr mich danach fragen. Ich gebe euch gern die notwendigen Erklärungen. Und wenn ihr an eure Mutter schreibt, dann grüßt sie von ihrer alten Lehrerin Fräulein Langheinrich.« Das war herzlich und gütig gesprochen. Ihre Worte gewannen ihr sofort das Herz der jungen Marietta. Die Stunde nahm ihren Fortgang. Die Nachbarin hatte Marietta gefällig ihren Schiller zum Einsehen hingeschoben. Der Schwester hatte die Lehrerin ihr eigenes Buch hingereicht. Aber Anita machte keinen Gebrauch davon. Sie langweilte sich entsetzlich.
    Da klang das Zeichen für den Schluß der Stunde schrill durch das Lyzeum. Anita und Marietta waren von der Literaturstunde erlöst.
    Die nächste Stunde war Geographie. Ein alter, gemütlich aussehender Herr fuchtelte mit seinem Stock auf der Landkarte herum.
    »Also zwei brasilianische Vögel sind uns zugeflogen«, meinte er lustig. »Erzählt uns mal etwas von Brasilien.«
    Anita begann sogleich unverfroren: »Brasilien ist schönstes Land auf Erde. Palmen wachsen bis in Himmel. Himmel ist blau, oh, herrlich blau. Und Sonne ist heiß, so heiß, muß man nicht frieren wie in Europa.«
    »Was, ihr friert heute bei dreiundzwanzig Grad Celsius?« unterbrach sie der Lehrer belustigt.
    »Ist nicht heiß hier, ist kalt. Brasilien ist mehr heiß, viel schöner als Europa. Man kann reiten, man kann fahren Auto, braucht gar nicht zu gehen. Man trägt nur Kleider von Seide, nicht häßliche wie hier die Mädchen.«
    »Nun, nun, das ist doch wohl nicht das Charakteristische von Brasilien«, unterbrach sie der Lehrer. »Vielleicht kann die Schwester uns noch Wichtigeres berichten.« Marietta begann tapfer, ihre Schüchternheit beherrschend: »In Brasilien es gibt der

Weitere Kostenlose Bücher