Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
war der deutschen Sprache jetzt so mächtig, daß ihrem Ohr das falsche Sprechen mancher Kinder weh tat. »Der Karle hat mir so doll jestoßen«, verbesserte sich der kleine Blondkopf. »Lenchen, sag du unserem Friedelchen, wie es richtig heißt.«
»Karl hat mich so doll gestoßen«, sprach Lenchen vor. Lenchens Vater war Buchhalter gewesen, früh gestorben, und die Mutter in kümmerlichen Verhältnissen zurückgeblieben. Trotzdem sprach das Kind ein gutes Deutsch.
»Mit den Gören ist heute kein Auskommen, Fräulein Jetta, sie müßten alle eine Stunde in die Ecke gestellt werden«, beklagte sich Tante Martha empört. Mariettas Blick fiel auf die bunte Häkelei der jungen Dame. Ehe sie noch antworten konnte, rief aber einer von den großen Jungen: »Pfui, Tante Martha, weißte, was du bist? 'ne olle Pfennigklatsche!« »Tante Martha ist eine Pfennigklatsche« - »Tante Martha is 'ne olle Petze!« Aufs neue schien das Gejohle losgehen zu wollen.
Stillschweigend, ohne ein Wort zu sagen, griff Marietta nach ihrem Lederhütchen.
»Nich gehen! - Tante Jetta soll mit uns spielen!« Selbst die ärgsten Schreihälse wurden zahm und verlegten sich aufs Betteln.
»Ihr seid mir heute zu unartig, Kinder«, sagte diese traurig.
»Wir wollen ganz artig sein! Liebe, liebe Tante Jetta, bleibe doch bei uns!« Das war Lenchen.
Mariettas weiches Herz vermochte all den zärtlich bittenden Stimmen nicht standzuhalten. Sie hängte den Hut wieder an den Nagel, verlangte aber als gute Pädagogin: »Fritz, entschuldige dich erst bei Tante Martha wegen des häßlichen Wortes.« Dies geschah zur geheimen Belustigung der beiden jungen Damen, indem Fritz Tante Martha treuherzig die tintenbeschmierte Hand reichte und dabei die ehrenvolle Erklärung abgab: »Tante Martha, du bist keine Pfennigklatsche nich!«
Nun saßen sie alle, die Kleinen, so brav auf ihren Plätzen, als ob sie niemals wie ein wilde Horde getobt hätten, und blickten erwartungsvoll auf Marietta. »Kleben wir wieder bunte Ketten für den Weihnachtsbaum, Tante Jetta?« »Au ja - und Goldkörbchen flechten wir wieder und Silbernetze ...«
Aber Tante Marietta schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Kinder, heute habt ihr es nicht verdient, daß wir Weihnachtsarbeiten machen. Das ist eine Belohnung für artige Kinder. Ketten und Körbe von unartigen Kindern hängt der Weihnachtsmann gar nicht an den Tannenbaum an. Wir werden heute an unserer Puppenwohnung weiterarbeiten.« »Och, die olle Puppenwohnung«, wollte Ingeborg wieder Einwendungen machen, aber ein ernster Blick von Tante Jetta ließ sie sofort verstummen.
»So, Kinder, nun räumt erst euer Spielzeug ein und legt es wieder ordentlich in den Schrank, ehe wir was Neues vornehmen. Ihr Großen arbeitet fleißig, damit ihr nachher auch mitspielen könnt. Nun, Kläre, wieviel Fehler waren im Diktat? Oh, so viele? Da werde ich dir nachher ein paar Sätze diktieren, so schlechte Arbeiten dürfen meine Kinder nicht schreiben. Wie geht's dem Vater, Lorchen? Haben ihm die Früchte geschmeckt, ja? Nun schreibe mal besonders schön, damit der kranke Vater sich freuen kann und schnell gesund wird.« So schritt Marietta von einem ihrer kleinen Schützlinge zum andern, jeden mit einem freundlichen Wort ermunternd. 'Woran lag es bloß, daß die Kinder bei Fräulein Marietta stets brav und lieb waren und sie selbst immer Ärger mit ihnen hatte?' fragte sich Fräulein Martha. Wirklich, es war merkwürdig, wie die Kinder jetzt alle voll Eifer dabei waren, an der Puppenwohnung zu helfen. Je nach Alter und Geschicklichkeit wurden sie dabei beschäftigt. Die Puppenwohnung selbst, aus Pappe, durch Pappwände in Zimmer und Küche, ja sogar in zwei Stockwerke abgeteilt, stand bereits im Rohbau. Jetzt galt es Tapeten zu malen. Lenchen und Ingeborg bekamen das Wohnzimmer zugewiesen. Auf die Rückseite von mattem Goldpapier durften sie leichte Ornamente, die Tante Jetta ihnen vorzeichnete, malen, ausschneiden und auf dunkelgrünes Glanzpapier kleben. Das gab eine herrliche Tapete. Zwei kleinere, Gustel und Kätchen, hatten die Schlafzimmertapete zu liefern. Diese war einfacher. Weiße Streifen wurden in regelmäßigen Abständen auf himmelblaues Papier geklebt. Die drei Kleinsten flochten bunte Papierteppiche für die Zimmer. Paulchen malte das Pappdach mit ziegelroten Steinen an und Karlchen tuschte braune Türen. Die Großen arbeiteten voll Eifer an ihren Schularbeiten, um anschließend ebenfalls helfen zu können. Die Jungen machten aus
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