Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
können mit unserem Schwiegersohn durchaus zufrieden sein. Ricardo Orlando ist ein liebenswürdiger und auch tüchtiger junger Mann, durch und durch Gentleman. Die Orlandos sind eine vornehme, reiche Familie, sie besitzen große Zuckerplantagen. Anita wird von ihrem Verlobten und seinen Angehörigen vergöttert - das ist das Richtige für sie. Sie ist glücklich, und ich hoffe zuversichtlich, daß es so bleibt. Dem Horst sagt sie fast täglich, wie dankbar er ihr sein müsse, daß sie ihn davor bewahrt habe, mit ihr unglücklich zu werden. Sie sieht nun mal die Dinge nüchtern und klar an. Du, meine Jetta, wirst jetzt sicher mit all deinen Gedanken bei uns weilen. Du mußt kommen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du der Hochzeit deiner Zwillingsschwester fernbleiben könntest. Ihr zwei habt doch immer zusammengehört.«
»Nein - nein - nein!« sagte Marietta laut in die Lektüre ihres Briefes hinein und erschrak vor ihrer Stimme. Sie vermochte jetzt noch viel weniger nach Amerika zurückzukehren, ganz abgesehen von ihrer Arbeit. Was schrieb die Mutter weiter? Wie gut sich Juan entwickelte. Er lernte fleißig. Ja, der kleine Bruder. Nach dem sehnte sich Marietta öfters. Nach ihm und nach der Mutter. Merkwürdig, sie hatte ihren Vater doch auch lieb. Aber Heimweh, wie nach der Mutter, empfand sie nicht nach ihm. Und Anita, ihr ehemals zweites Ich? Sie griff nach dem großen Bogen mit den Riesenbuchstaben. Anita schrieb stets portugiesisch an Marietta.
»Liebe, kleine Jetta! Was sagst Du dazu? Deine Nita ist Braut. Du mußt ja Ricardo noch aus unserer Kindertanzstunde kennen. Er ist eigentlich noch viel rassiger als damals. Auch so galant ist er noch heute und noch ganz genau so verschossen in mich. Von Musik versteht er leider nicht viel. Er weiß nicht, was er mir alles an den Augen ablesen soll. Jeden Tag schenkt er mir etwas anderes, die herrlichsten Schmucksachen, ein schneeweißes Reitpferd, ja sogar ein reizendes kleines Auto für meinen persönlichen Gebrauch. Auch die Eltern und Geschwister meines Verlobten verwöhnen mich sehr. Die Orlandos sind ja so reich. Sie wissen gar nicht, was sie mit ihrem Geld anfangen sollen.« »Ich wüßte es schon«, murmelte Marietta vor sich hin, und sie dachte an die elenden Lehmhütten in dem Arbeiterdorf. Schrieb Anita denn gar nichts von Horst? Konnte sie wirklich so herzlos sein, nur von sich und ihrem Glück zu sprechen?
»Ricardos Brüder sind auch sehr schick. Besonders Rodrigo, der ist noch zu haben. Wie wär's Jetta? Eigentlich doch ganz lustig, wenn wir Zwillinge zwei Brüder heirateten. Wir ziehen zusammen in ein Haus und führen ein fideles Leben miteinander. Du kommst doch bestimmt zu meiner Hochzeit? Dann können wir gleich Eure Verlobung feiern. Rodrigo wird Dir sicher gefallen. Er ist ein Gentleman. Oder aber tröste Horst. Er ist sicher ein guter Mensch. Aber mir ist er zu gut. Zuviel Gefühlsduselei, und von mir verlangt er dasselbe. Aber zu Dir würde er schon eher passen. Überleg es Dir - Rodrigo oder Horst. Wer von beiden gewinnt den Preis? Bei Deinen Armeleutekindern darfst Du nicht alt werden. Ricardo läßt seine Schwägerin grüßen. Er schreibt noch selber. Dich küßt tausendmal Deine Nita.«
Der Brief fiel zur Erde. Marietta achtete dessen nicht. Sie sah nicht die Kinderhandschrift des kleinen Juan noch die markanten Schriftzüge des Vaters. So war Anita. Sie sah sie leibhaftig vor sich, die schöne Schwester, lachend ihre schwarzen Locken schüttelnd, unbekümmert in ihrem Glück darum, daß sie einem anderen weh tat. Ebenso wie sie selbst ihre Ehe schloß, auf Äußerlichkeiten aufgebaut, ohne innere Zusammengehörigkeit, so gedachte sie auch Mariettas Zukunft zu gestalten. Ein bitteres Lächeln ging über das bleiche Mädchengesicht. Rodrigo oder Horst? Wer gewann den Preis? Ein Rennen, eine Sportsache war es für Anita - mehr nicht. Und daran mußte solch ein Prachtmensch wie Horst Braun zugrunde gehen. Nein - Marietta schüttelte den Kopf - ein Mensch wie Horst ging gewiß nicht an solch einer Enttäuschung zugrunde. Der hatte zuviel Rückhalt, zuviel Wertvolleres dafür einzusetzen. Aber weh, bitter weh mochte sie ihm getan haben. Das Bild der Schwester zerfloß. Ein anderes Bild gestaltete sich vor Mariettas Blick. Sie sah ihn unter den Palmen ihrer Tropenheimat, den großen, hellblonden Mann von der deutschen Waterkant, ein seltsamer Gegensatz zu den dunklen Bewohnern des Landes. Armer, armer Horst! Aus Mariettas schwarzen Augen
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