Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
das schön, wenn man morgens aufwacht und sich noch halb schlafbefangen zu dem Bewußtsein durchringt: Heute ist Sonntag. Du brauchst heute keinen erschreckten Blick auf die Uhr zu werfen, nicht sofort mit beiden Beinen aus dem Bett zu springen; nicht nach dem im geradezu rasenden Tempo weiterrückenden Zeiger in demselben rasenden Tempo deine Toilette zu vervollständigen; nicht mit dem letzten Frühstücksbissen zur Bahn zu stürzen, damit sie dir nicht vor der Nase davonsaust. Es ist Sonntag!
Auch die Natur schien sich zu diesem sonntäglichen Bewußtsein durchgerungen zu haben. Es hatte aufgehört, zu regnen. Es war noch immer kein schönes Wetter. Aber in den Mehlsuppenhimmel, der tagelang, ohne sich zu verschieben, wie dicker Kleister über dem Häusermeer geklebt hatte, war doch wenigstens Bewegung gekommen. Wenn die Wolken auch noch grau und geschwollen waren, sie verschoben sich doch wenigstens. Es war doch immerhin möglich, daß, wenn auch nicht heute, so doch vielleicht morgen oder spätestens übermorgen wieder ein Streifen Himmelblau sichtbar werden oder gar die Sonne eine kurze Gastrolle geben konnte. Geheimrats machten ihren Sonntagvormittagsspaziergang. Vater Kunze und Lottchen waren ebenfalls ausgeflogen. Sie waren in die Stadt gefahren, um die Weihnachtsschaufenster zu bewundern. Frau Trudchen war mit dem Sonntagsbraten beschäftigt. Marietta saß am Flügel. Sie sang Schubert und Schumann, die Lieder, die ihre Mutter einst hier gesungen hatte. Ihre Stimme war nicht so voll wie die Frau Ursels, aber sie hatte denselben schönen Klang. An ihren Gesangstudien hielt Marietta trotz ihrer sie reichlich ausfüllenden sozialen Tätigkeit fest.
»Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum« - Marietta erinnerte sich des Tages, da sie als Kind im Tropenland dieses Lied zum ersten Mal von der Mutter gehört hatte. »Ein Lindenbaum, was ist das?« hatte sie gefragt. Marietta schaute durch die Scheiben. Da stand er, der Lindenbaum, kahl und nackt. Seine dürren Zweigarme streckte er zitternd in den grauen Dezemberhimmel. Die Gartentürschelle schlug an. Den Kiesweg entlang stampfte der Briefträger dem Hause zu. Nanu - heute am Sonntag? Marietta flog ihm entgegen. Und da hielt sie auch schon den dicken Brief in Händen. Er trug die Schriftzüge der Mutter und war, wie stets, an den Großvater adressiert. Aber bei Heimatbriefen fiel das Briefgeheimnis fort. Briefe aus Brasilien durften aufgemacht werden, das war stillschweigende Übereinkunft. Knisternd fiel die Briefhülle. Marietta griff zuerst nach dem Brief ihrer Mutter. Anitas in portugiesischer Sprache geschriebene Riesenbuchstaben hatten noch bis nachher Zeit.
»Meine geliebten Eltern! Meine Jetta!« las sie. »Ich falle gleich mit der Tür ins Haus: Unsere Anita ist Braut!«
Der Brief, der so sehnlichst erwartete, sank herab. Also doch! Es war doch gar nichts Überraschendes. Sie hatten es doch erwartet. Schon damals, als Anita das letzte Mal in Europa gewesen war, Horst hatte nur Augen für die schöne Anita gehabt. Und als er ihr dann übers Meer folgte, ja - da war' sdoch schon entschieden. Mochten die beiden recht glücklich werden! - Mariettas zitternde Hand griff aufs neue nach dem Brief. Aber die Buchstaben verschwammen ihr vor den Augen. Es dauerte eine Weile, bis sie weiterlesen konnte.
»Gestern hat sie sich mit dem jungen Ricardo Orlando verlobt ...«
»Was?« - Marietta mußte zwei-, dreimal lesen, ehe sie ganz begriff. Ricardo Orlando - nicht Horst Braun? Noch schmerzhafter empfand es Marietta nun - unsagbares Mitgefühl mit Horst erfüllte sie. Der Ärmste - wie mochte er unter der Enttäuschung leiden.
»Ihr werdet sicher ebenso erstaunt darüber sein, meine Lieben, wie wir es waren. Milton und ich hatten etwas anderes erwartet. Aber Horst hat zu lange gezögert. Da ist ihm Ricardo zuvorgekommen. Ich sehe es, sowohl für Anita wie für Horst, für ein Glück an, daß es so gekommen ist. Das hätte niemals einen harmonischen Zusammenklang gegeben. Wenn sie ihn eben noch durch ihre Schönheit und durch ihre sprühende Liebenswürdigkeit entzückt hatte, stieß sie ihn im nächsten Augenblick durch irgendeine kühle Bemerkung zurück. Milton ist beinahe ebenso enttäuscht wie Horst. Er hatte gehofft, ihn in seine Firma aufnehmen zu können. Aber wir fürchten, er wird es jetzt nicht mehr in den Tropen aushalten. Übrigens können wir mit unserem Schwiegersohn - Muzi, was sagst du nur dazu, deine Ursel Schwiegermutter! - ja, wir
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