Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
rieselten Tränen. So saß sie, losgelöst von ihrer Umgebung. So saß sie noch, als Frau Trudchens knuspriger Sonntagsbraten durch das Haus duftete und die Großeltern von ihrem Spaziergang heimkehrten.
Erst als die Schlüssel im Schloß rasselten, fuhr Marietta aus ihrer Versunkenheit empor, bückte sich unwillkürlich nach den auf dem Teppich verstreuten Briefblättern und versuchte mit ihrem Tüchlein die Tränenspuren zu tilgen. Da erklang schon Großmamas liebe Stimme: »Jetta, Seelchen, wo steckst du denn? Du hättest doch mitkommen sollen, Kind. Man darf sich nicht vom Wetter abhängig ...«
Da unterbrach die Großmama den Redeschwall: »Ein Brief - Nachricht aus Brasilien - Kind, was ist passiert? Du siehst ja totenblaß aus.« Aufgeregt griff die Großmama nach dem Brief.
»Nichts, Großmuttchen, sie sind alle gesund. Nur ...« - Marietta zwang ihre Lippen zu einem Lächeln - »Anita hat sich verlobt!«
»Gratuliere!« klang es laut zur Tür herein aus dem Nebenzimmer. »Hat er hat doch dran glauben müssen, der arme Junge.«
Die Großmama aber sprach kein Wort. Sie vergaß, den langersehnten Brief ihrer Ursel zu lesen. Sie vergaß, Hut und Mantel abzulegen. Ihre klaren Augen forschten besorgt in dem bleichen Gesicht der Enkelin. Jähe Erkenntnis durchzuckte die alte Frau: Marietta litt unter der freudigen Botschaft.
»Kind – Seelchen ...« die Großmama griff nach der kalten Mädchenhand, »das haben wir doch kommen sehen. Das haben wir doch gewußt. Das darf uns doch jetzt nicht überraschend sein! Wenn er sogar die Heimat um ihretwillen aufgeben konnte, und Anita wird Horst gewiß eine gute Frau werden. Die Liebe wird sie verändern. Ich glaube, Seelchen, wir dürfen uns nur mit den beiden freuen.« Sie zog die schlanke Gestalt in ihre Arme.
»Anita hat sich mit Ricardo Orlando verlobt.« Mariettas Stimme klang leer.
»Wie - was? Mit wem?« Großmama traute ihren Ohren nicht. Mit dem jungen Orlando?
Oh, dann war ja alles gut. Dann hatte sie sich geirrt, Gespenster gesehen. Marietta war lediglich durch die überraschende Nachricht mitgenommen. Sie schob Marietta ein Endchen von sich ab. »Seelchen, was bist du sensibel. Wie kann dich die freudige Botschaft nur so angreifen. Nun ja, es ist deine Zwillingsschwester, und es ist wohl verständlich, daß du einen für sie so wichtigen Schritt mit der gleichen Erregung aufnimmst, als wärst du es selbst. Aber du mußt widerstandsfähiger werden ...«
»Und an Horst denkst du gar nicht, Großmama?« kam es vorwurfsvoll von Mariettas Lippen.
»Ich denke schon an ihn, Kind. Aber ich betrachte es nicht als ein Unglück, wie es gekommen ist. Anitas Schönheit hat es ihm angetan, vielleicht auch ihr sprühendes Wesen. Aber von einer Seelengemeinschaft kann doch niemals die Rede gewesen sein. Darum wird Horst die Anita schneller vergessen, als man denkt. So, und nun wollen wir endlich den Brief lesen.« Die Großmama ging damit ins Nebenzimmer zu ihrem Mann. Den Brief ihrer Ursel, den mußten sie stets gemeinsam studieren.
Marietta stand allein am Fenster. »Bravo!« hörte sie den Großvater nebenan ausrufen, »das hat das Annele mal gescheit gemacht. Die Dollarprinzessin paßt zu dem Horst, wie halt ein Hindumädchen zu mir.«
Frau Trudchens Sonntagsbraten, so wohlgeraten er auch war, wollte Marietta heute gar nicht munden.
Wie jeden Sonntag deckte sie nach dem Essen zusammen mit Lottchen den Tisch für die Kaffeegäste. Sie stellte Frau Trudchens großen Mohnkuchen in die Mitte und dachte daran, daß der Vetter Horst diesen besonders gern gemocht hatte. Es ging an den Familiensonntagen immer recht lebhaft zu. Da waren der Onkel Hans und die Tante Ruth mit ihrem lustigen Quartett, die älteste, Lilli, ein frischgebackener Backfisch von vierzehn Jahren, Evchen, die um zwei Jahre jüngere, und die kleineren Brüder Edchen und Heinz. Da kamen der Onkel Georg Ebert, Tante Vronli und Gerda, mit denen es soviel aus der Frauenschule, aus den Horten und Heimen zu besprechen gab, daß man wirklich nicht zum Nachdenken kam.
Anitas Verlobung erregte natürlich allgemeines Erstaunen. Aber darin war man sich einig, daß Horst Braun zu schade für Anita sei. Onkel Hans, der seine erwachsene Nichte noch heute genauso neckte wie früher den Backfisch, meinte sogar zwinkernd: »Ei, Marietta, wie ist es denn mit dir? Vielleicht tröstest du den armen Jungen?«
»Dazu bin ich mir wieder zu schade«, sagte Marietta abweisend.
Nun - nun, Seelchen, du verstehst doch
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