Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
die Kleinen mit den vor Eifer roten Bäckchen und den reinen, strahlenden Kinderaugen.«
Der Großvater dachte nicht mehr daran, daß es in seinem linken Zeh zwickte, daß er wieder ein wenig Druck in der Herzgegend verspürte und daß die Augen gar nicht mehr so wollten. Sobald Marietta nach Hause kam, wurden sie alle beide jung und vergnügt, die Großeltern.
»Noch immer kein Brief?« fragte Marietta. »Was das nur bedeutet? Seit vierzehn Tagen ist Mamis Brief fällig. Es sind Schiffe aus Südamerika inzwischen eingetroffen. Und daß auch Anita gar nicht schreibt.« Diesmal war es die Großmama, die beruhigte, obwohl sie sich schon selber Gedanken machte. »Sie sind jetzt sicher schon wieder draußen auf der Fazenda, Seelchen. Die Übersiedlung in ihr Sommerhaus nimmt sie gewiß in Anspruch.« »Ach, dabei haben unsere Damen nichts zu tun. Das machen alles die Diener. Herrgott, wenn ich denke, wie abhängig von andern man mal gewesen ist. Ich schäme mich noch in der Erinnerung. Anita hat genug Zeit zum Schreiben, wenn sie nur will.« »Wer weiß auch« - die Großmama machte ein merkwürdig verschmitztes Gesicht dabei - »vielleicht halten sie andere Pflichten davon ab. Über ein Jahr ist der Horst nun schon in Sao Paulo. Wie Mutter schreibt, hat er sich gut in den Kaffe-Export eingearbeitet. Dein Vater ist außerordentlich zufrieden mit dem strebsamen ...«
»Freilich, deutscher Fleiß und deutsche Pflichttreue, der Artikel ist selbst in Amerika begehrt, made in Germany«, knurrte der Geheimrat dazwischen. Er konnte es nicht verwinden, daß sein Neffe Horst Braun dem Vaterlande untreu geworden war. »Daß er der Anita gut war, das sah ja ein Blinder ohne Laterne«, fuhr die Großmama schnell fort, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. »Beinahe jeden zweiten Sonntag kam er damals aus Hamburg nach Berlin herüber, als Anita hier Violine studierte. Und es sind doch immer über drei Stunden Fahrt von Hamburg hierher. Und als er dann wirklich hinüberging, da war's doch nur noch eine Frage der Zeit. Ich weiß nicht, worauf sie noch warten. Anita ist zwanzig Jahre alt. Drüben bei euch heiraten die Mädelchen im allgemeinen früher. Vielleicht gibt's zu Weihnachten eine Verlobung.« Die Großmama war so lebhaft geworden, daß sie es gar nicht beachtete, daß Marietta sehr still, sehr blaß ihren Worten gefolgt war.
»Wenn Anita ihn nur ebenfalls liebhat«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, ob Anita seinen Wert voll erfaßt hat. Es schmeichelte ihr wohl, daß er nur Augen für sie hat. Aber die Janqueiros und die Orlandos spielen in ihren Briefen mindestens die gleiche Rolle. Ja, vielleicht noch eine wichtigere, weil sie tüchtigere Sportsleute sind. Ob sie seine Neigung wirklich ernsthaft erwidert ...«
»Da sieht man halt wieder die Weibsleut. Schwätzen und schwätzen drauflos. Das werden die zwei schon ohne euch miteinander ausmachen. Mir ist's halt jetzt wichtiger, die neuesten Nachrichten zu hören.« Der Geheimrat griff wieder an die Radioknöpfe. »Natürlich zu spät, bereits vorüber. Jetzt kommt die Zeitansage, und dann zu Bett, Kinderle.«
Bald schloß das Haus seine hellen Fensteraugen. Auch drunten im Erdgeschoß, in dem die Großeltern ihre Schlafzimmer hatten, schlossen sich alsbald die alten Augen. Droben pladderte der Regen auf den Balkon. Es hörte sich eigentlich recht behaglich an, wenn man in seinem Bett lag. Es schlief sich gut dabei. Wieso fand Marietta nur heute keinen Schlummer? Ihre Gedanken wanderten ruhelos. Anita und Vetter Horst gingen ihr nicht aus dem Kopf. Warum zögerten sie bloß mit der Verlobung? Das Klima und das Leben in den Tropen hatten dem Vetter am Anfang wenig behagt. Aber aus den letzten Briefen ging hervor, daß er sich jetzt besser dort eingelebt hatte. Sicher würde er drüben festen Fuß fassen. Der Vater hatte mit ihm eine tüchtige Kraft für sein weitverzweigtes Kaffee-Exporthaus gewonnen. Und Anita würde glücklich mit ihm werden. Aber würde sie ihn auch glücklich machen? Bei aller Liebe zu der Zwillingsschwester, Marietta war nicht blind gegen deren Fehler. Anita war liebenswürdig und gutherzig, aber oberflächlich und gefallsüchtig, sie lebte im Luxus. War sie imstande, Horst für immer die Heimat zu ersetzen? So lag Marietta, sann, grübelte und lauschte dem Rauschen des Regens, bis das Fluten da draußen leiser und sanfter wurde, bis die Flut ihrer Gedanken allmählich abebbte und auch ihre Augen sich schlossen.
Aus den Tropen
Ist
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